Verbreitet: Lügen aus Höflichkeit
Die Schlange gilt in der Bibel als Inbegriff von Verlogenheit: Im Alten Testament verführt sie Adam und Eva, vom Baum der Erkenntnis zu essen – mit einer List. Doch in Wahrheit ist der Mensch der Meister der Täuschung.
Ein guter Lügner ist immer ein guter Schauspieler. Er hat seine Lüge bis ins Detail einstudiert, kann flüssig erzählen, wirkt souverän. Dem Zuhörer fällt es schwer, zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden. Und genau das ist das Ziel des Lügners: Er täuscht und schwindelt – will aber, dass sein Gegenüber das Gesagte für bare Münze nimmt.
Nicht hinter jeder Lüge steckt böse Absicht. Oft wird aus Höflichkeit gelogen: So bewundern wir das Kleid einer Freundin, obwohl sie darin blass wirkt, um sie nicht zu kränken. Der Schriftsteller Mark Twain hat es auf den Punkt gebracht: "Keiner von uns könnte mit einem notorisch ehrlichen Menschen leben."
Viele Menschen tricksen, um einen Konflikt zu vermeiden oder sich einen Vorteil zu verschaffen. Scham oder Angst motivieren ebenfalls zum Schummeln. Zwischen den Geschlechtern gibt es Unterschiede, über was gelogen wird – das haben die US-amerikanischen Forscherinnen Bella DePaulo und Deborah Kashy herausgefunden.
So lügen Männer angeblich bevorzugt über ihr Leben, über die berufliche Perspektive oder das Gehalt. Frauen führen ihre Mitmenschen an der Nase herum, indem sie übertriebene Komplimente verteilen oder sich betont freundlich geben.
Wissenschaftler schätzen, dass jeder Erwachsene im Schnitt zweimal täglich flunkert. In einigen Berichten und Presseartikeln ist sogar von bis zu 200 Lügen täglich die Rede. Woher diese Zahl stammt, ist jedoch unklar.
Kinder müssen erst lernen, bewusst zu lügen
Kinder müssen früh mit Lügen leben. Schuld daran sind ausgerechnet die Eltern – sie verheimlichen und vertuschen, etwa wenn es um die Krankheit eines Verwandten geht.
Doch auch die Kleinen lernen früh zu mogeln. Darauf deutet ein berühmtes Experiment aus den 1980er-Jahren hin: Eine US-amerikanische Forschergruppe um Michael Lewis beobachtete Dreijährige beim Lügen.
Die Kleinen hatten sich unerlaubterweise umgedreht, um ein Spielzeug anzuschauen, aber leugneten den Regelbruch im Anschluss. Offenbar fürchteten sie eine Bestrafung – und wollten dieser mit einer Notlüge entgehen.
Bei dem ehemaligen Sigmund-Freud-Schüler Viktor Tausk kam der Lüge eine Schlüsselrolle in der kindlichen Entwicklung zu: Er war überzeugt, dass Kinder erst durch die Lüge lernen, dass sie eine eigene Identität besitzen.
Die Forscherinnen Bella DePaulo und Audrey Jordan denken, dass Kinder ab einem Alter von dreieinhalb Jahren ein Gespür für das Bewusstsein anderer entwickelt haben. Ab diesem Zeitpunkt sollen sie bewusst lügen können, um sich Vorteile zu verschaffen.
Für Eltern ist diese Erkenntnis ein Schock. Sie verstehen es als Vertrauensbruch, wenn sie von ihren Kindern angelogen werden. Trost spendet da das Wissen, dass kindliche Lügen leicht zu entlarven sind.
Eine Alltags-Anekdote, die wohl allen Eltern bekannt vorkommen dürfte: Der Sohn oder die Tochter leugnet, Kekse gegessen zu haben – aber die Krümel an den Mundwinkeln erzählen eine andere Geschichte.
Mikro-Ausdrücke können Lügner verraten
Wenn Hinweise auf eine Lüge fehlen, bleibt der Blick ins Gesicht des Gegenübers. Der US-Psychologe Paul Ekman erforschte über Jahrzehnte, ob und wie ein Lügner sich anhand seiner Mimik überführen lässt.
Seine Erkenntnis: Wer lügt, lächelt häufig, um seine wahren Gefühle, wie Unbehagen oder Angst zu überspielen. Sogenannte Mikro-Ausdrücke geben Aufschluss über das echte Gefühlsleben des Schwindlers.
Diese unwillkürlichen Gesichtsausdrücke sind nur für den Bruchteil einer Sekunde auf dem Gesicht des Lügners zu sehen, zeigen aber die real empfundenen Emotionen wie Ekel, Wut oder Angst. Ein Heuchler wird versuchen, diese Emotionen mit einem künstlichen Lächeln zu verbergen: Die Mundwinkel ziehen sich nach oben, aber die Augen lachen nicht mit.
Lügner können sich auch durch Verhaltensänderungen verraten. Wer bei einem bestimmten Thema plötzlich leiser oder lauter spricht, lächelt oder sich anders hinsetzt, könnte die Unwahrheit sprechen.
Auch Stressanzeichen verraten den Schwindler: Er spricht mit Verzögerungen, wiederholt sich, legt Denkpausen ein oder blinzelt besonders oft. Der deutsche Psychologe Jack Nasher hat über die Kunst der Lügen-Entlarvung ein Buch geschrieben, er weiß: "Wenn man genau hinschaut, sind auch geübte Lügner meist keine perfekten Schauspieler."
Um Schwindler gezielt überführen zu können, erfand James Mackenzie im Jahr 1902 den Lügendetektor (Polygraph). Er erfasst körperliche Symptome, misst Atemfrequenz, Puls, Blutdruck und die Veränderung des Hautwiderstands durch Schwitzen.
Zunächst werden dem Befragten unverfängliche Fragen gestellt – so sollen seine Normwerte ermittelt werden. Treten bei kritischen Fragen Veränderungen auf, werden diese als Hinweis auf eine Lüge gedeutet.
In der Praxis konnte sich das Gerät jedoch nicht durchsetzen: Findige Lügner überlisten den Detektor, indem sie ihre Messwerte bewusst verzerren. Offenbar wird dieser Effekt schon erreicht, wenn sich Befragte auf die Zunge beißen oder die Zehen gegen den Boden drücken.
(Erstveröffentlichung 2015. Letzte Aktualisierung 09.06.2020)