Flaschenkinder gibt es seit 1920
Bis ins 19. Jahrhundert gab es für Neugeborene nur eine Ernährungsform: Sie wurden gestillt. Von der Mutter oder – wenn das nicht möglich war – von einer Amme.
Mit Beginn der Industrialisierung wurden Babys die ersten Fläschchen gegeben, seit den 1920er-Jahren wird Säuglingsnahrung auf Basis von Kuhmilch industriell hergestellt. Der Anteil von Flaschenkindern stieg kontinuierlich, bis er in den 1970er-Jahren in den westlichen Staaten seinen Höhepunkt erreicht hatte.
Flaschenmilch galt als sicher und praktisch, während Stillen negativ dargestellt wurde: Es schränke die persönliche Freiheit ein, sei mit dem Beruf nicht vereinbar und ruiniere die Figur.
Stillen galt zudem als Zeichen für niedrigen Sozialstatus und sogar gesundheitlich als unsicher, nachdem in der Muttermilch mancher Frauen Chemikalien gefunden worden waren.
Stillen erfordert oft Beratung
Das änderte sich erst in den 1970er-Jahren, als Organisationen wie die "La Leche Liga" gegründet wurden, die in der Öffentlichkeit, bei Ärzten und bei Hebammen für das Stillen warben.
Außerdem wurden in der Medizin biologisch und psychologisch wertvolle Aspekte des Stillens entdeckt, sodass sich nach der Jahrtausendwende das Verhältnis wieder umdrehte: Seitdem gibt es wieder mehr Still- als Flaschenkinder.
Allerdings sind viele Mütter anfangs unsicher: Oft können sie ihre eigenen Mütter oder Verwandten nicht um Rat fragen, da diese selbst nicht gestillt haben. Diese Rolle übernehmen deshalb häufig Stillberaterinnen und speziell ausgebildete Hebammen.
Zudem tragen viele Geburtskliniken und Wochenstationen das Siegel "Stillfreundliches Krankenhaus", das die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammen mit der Unesco verleiht. In solchen Kliniken wird besonders viel Wert darauf gelegt, dass die Neugeborenen die Brust bekommen. Das Personal ist geschult und unterstützt die Mütter.
Muttermilch reduziert Allergierisiko
Tatsächlich ist Muttermilch sehr gut auf die körperlichen Bedürfnisse eines Säuglings abgestimmt. Bereits in der Vormilch, die ein Baby in den ersten vier Tagen erhält, sind besonders viele Antikörper, die das noch krankheitsanfällige Neugeborene widerstandsfähiger machen. Und auch die Milch, die danach kommt, hat viele Abwehrstoffe gegen Krankheitserreger.
Zudem verhindert Muttermilch, dass Kinder früh an Allergien erkranken. Gerade in Familien, in denen häufig Allergien wie Heuschnupfen oder Hautkrankheiten auftauchen, haben Stillkinder bessere Chancen, von diesen Beschwerden verschont zu bleiben. Außerdem kann nach Ansicht mancher Biologen Stillen das Risiko halbieren, an Plötzlichem Kindstod zu sterben.
Der Energie- und Nährstoffbedarf eines Babys wird durch Muttermilch optimal abgedeckt. Die Zusammensetzung der Milch ändert sich im Laufe der Zeit, je nach den Bedürfnissen des Kindes.
Stillen schult auch die Geschmackssinne. Anders als Flaschenmilch schmeckt Muttermilch immer ein bisschen anders – je nachdem, was die Mutter vorher gegessen und getrunken hat.
Studien belegen, dass Stillkinder später häufiger neue Nahrungsmittel probieren und beispielsweise eher zu Obst greifen als Flaschenkinder. Nicht zuletzt ist Muttermilch kostenlos, immer verfügbar und sie muss nicht aufgewärmt werden. Außerdem senkt eine stillende Frau das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken.
Flaschenkinder wachsen genauso gut
Der Boom, den das Stillen seit Ende des 20. Jahrhunderts erlebt, hat allerdings auch seine Schattenseiten. Denn inzwischen wird Stillen für die Mutter-Kind-Beziehung oft als alternativlos dargestellt.
Das setzt viele Frauen unter Druck, die ihr Kind nicht stillen können oder wollen: Sie fühlen sich verunsichert oder herabgewürdigt.
Doch es gibt keine wissenschaftlich haltbare Untersuchung, die belegt, dass Flaschenkinder größere Probleme in Sachen Wachstum oder Beziehungsfähigkeit haben als gestillte Kinder.
Dass für Babys körperliche Nähe extrem wichtig ist, ist bekannt. Allerdings macht es offenbar keinen Unterschied, ob das Baby, das im Arm liegt, eine Flasche oder die Brust bekommt. Zudem hat das Fläschchen einen großen Vorteil: Es kann auch vom Vater gegeben werden.
Wenn sich auch der Vater um die Ernährung kümmert, kann das Kind eine gleichermaßen enge Beziehung zu beiden Elternteilen aufbauen. Außerdem hat die Mutter so größere Freiheiten und ist nicht an das Kind "gefesselt" – auch das ist ein Aspekt, der in modernen Gesellschaften wichtig ist.
Abstillen: ein großer Schritt zur Selbständigkeit
Die Frage, wie lange man Kinder stillen sollte, wird in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich beantwortet. Während in archaischen Stämmen in Afrika drei bis viereinhalb Jahre lang gestillt wird, ist in den westlichen Industrieländern meist nach einem Jahr Schluss. Dort ist das Abstillen ein Prozess, der von Konflikten begleitet werden kann.
Manche Mütter empfinden das Stillen als Einschränkung, weil sie in der Stillzeit weniger arbeiten und sich weniger um sich selbst und die eigenen Bedürfnisse kümmern können. Auch die Zeit und Energie, die man in die Beziehungen zu weiteren Kindern, dem Partner oder Freunden und Bekannten investieren kann, ist eingeschränkt.
Dennoch: Für Babys ist es oft das Allergrößte, an der Brust ihrer Mutter zu trinken und sie ganz für sich alleine zu haben. Doch egal, ob das Abstillen sehr einfach oder eher problematisch verläuft: Die Trennung von der Mutterbrust ist ein großer Schritt hin zur Selbstständigkeit eines Kindes.
(Erstveröffentlichung 2011. Letzte Aktualisierung 19.08.2020)