Kindheit voller Gewalt
Josef Wissarionowitsch Dschugaschwilli kommt am 18. Dezember 1878 (nach anderen Angaben am 21. Dezember 1879) in der georgischen Stadt Gori zur Welt, in der Nähe der Hauptstadt Tiflis.
Josef ist ein intelligentes Kind, das in trostlosen Verhältnissen groß wird. Die Geschwister sterben früh. Der Vater, der sich mit einer eigenen kleinen Schuhmanufaktur selbständig macht, geht bald pleite und muss fortan in Tiflis arbeiten. Die Mutter ist eine streng religiöse Frau, die ihren Sohn früh ins Priesteramt drängt. Die Familie besitzt kaum das Nötigste zum Leben, der Vater trinkt, Schläge bekommt der Sohn von beiden Eltern häufig zu spüren.
Stalins Kindheit ist geprägt von Gewalt. Früh lernt das Kind zu hassen. Sein Gesicht ist übersät von Narben, die die Pocken hinterlassen haben, der linke Arm ist seit einem Unfall verkrüppelt.
Doch in der Schule glänzt Josef mit hervorragenden Leistungen. Darüber hinaus besitzt er eine helle Stimme, einen schönen Tenor. Er singt bis ins hohe Alter gerne und bei vielen Gelegenheiten.
Sein Hang zur Gewalt fällt bald auf. Josef versteht es zu dominieren, bald ist er Anführer einer kriminellen Schlägerbande.
Im Priesterseminar
Im Jahr 1894 tritt Josef als bester Schulabgänger gegen den Willen des Vaters in das orthodoxe Priesterseminar in Tiflis ein, die damals wichtigste Bildungsanstalt Georgiens. Doch das Seminar besitzt einen zweifelhaften Ruf. Die Schüler werden von den Mönchen und Lehrmeistern eher unterdrückt als unterrichtet, das Seminar gleicht einer Strafanstalt.
Neben der klassischen Bildung erlernt Josef Dschugaschwilli die feinen und perfiden psychologischen Mechanismen der Unterdrückung, Selbstbehauptung und Drangsalierung von Konkurrenten.
Stalin liest alles, was er in die Finger bekommt. Darwins bahnbrechende Arbeit "Von der Entstehung der Arten" hinterlässt einen tiefen Eindruck in ihm; längst hat er sich zum überzeugten Atheisten gewandelt. Bald gelangt er in Kontakt mit verbotener Literatur, die seine ganze Aufmerksamkeit fesselt: den Klassikern des Marxismus'.
Leben im Untergrund
1897 beschließt Dschugaschwilli, Berufsrevolutionär zu werden und sich den subversiven Kräften anzuschließen, die das Zarentum stürzen wollen. Ein Jahr später wird er wegen revolutionärer Umtriebe aus dem Priesterseminar ausgeschlossen.
Er entzieht sich der Wehrpflicht und geht in den Untergrund. Die kommenden 20 Jahre verbringt der angehende Berufspolitiker in der Illegalität. Er wird Mitglied der kaukasischen Sektion der "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands". Dschugaschwilli wird Propagandist, er organisiert Streiks und Demonstrationen unter Eisenbahnern und Ölarbeitern, begeht im großen Stil Raubüberfälle und erpresst Schutzgelder.
Sein Leben im konspirativen Untergrund wird immer wieder von Verhaftungen und Verbannung nach Sibirien unterbrochen, aus der er jedoch jedes Mal umgehend zurückkehrt, da die ihm auferlegten Strafmaßnahmen nur halbherzig kontrolliert werden.
Stalin schließt sich den Bolschewiki an, dem radikalen Flügel der Berufsrevolutionäre unter ihrem Anführer Wladimir Iljitsch Lenin. 1905 begegnet er Lenin zum ersten Mal persönlich.
Ein Mann fürs Grobe
Im Revolutionsjahr 1917 beginnt die steile Karriere des Josef W. Dschugaschwilli. Er wird Mitglied des Zentralkomitees der Partei, steigt ins Politbüro auf und arbeitet in der Redaktionsleitung der Parteizeitung "Prawda".
Stalin – "der Stählerne", wie er sich jetzt nennt – besitzt zahlreiche Eigenschaften, die ihn für die Bolschewiki interessant machen: Er kommt vom Rande des Imperiums, ist eine Integrationsfigur, ein asiatisches Mitglied im russisch-jüdischen Milieu der Revolutionäre. Durch ihn können die Bolschewiki den jungen Sowjetstaat auch an seinen Randgebieten durchdringen.
Stalin ist ein Gewaltmensch mit Schwielen an den Händen, ein vorzeigbarer Proletarier, der maßgeblich von den Proletariern und den asiatischen Kadern der Partei unterstützt wird. In der ersten Sowjetregierung übernimmt Stalin das Amt des Volkskommissars für Nationalitätenfragen.
1922 wird er Generalsekretär der "Kommunistischen Partei der Sowjetunion" (KPdSU) und der Mann an der Seite Lenins. Bald schirmt er Lenin, der durch Schlaganfälle stark eingeschränkt ist, systematisch vom politischen Geschehen ab. Lenin erkennt die Gefahr, die von Stalins Skrupellosigkeit ausgeht: Kurz vor seinem Tod versucht er noch, den Georgier aus seinen Ämtern zu entfernen.
Lenins Testament
In seinem Testament, einem Brief an den Parteitag der KPdSU 1922/23, schreibt Lenin: "Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. [...] Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden."
Lenin fährt fort: "Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von Genossen Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist. "
Tödlicher Machtanspruch
Doch Stalin gelingt es, das Testament zu unterschlagen. Nach dem Tod Lenins 1924 entscheidet er den Machtkampf in der Partei zu seinen Gunsten. Erst schaltet er seinen Hauptgegner Trotzki aus, den er später im mexikanischen Exil ermorden lässt. Nach und nach schasst er jeden Konkurrenten im Innersten der Macht.
Mitte der 1920er-Jahre verdrängt Stalin die ehemaligen Mitstreiter der alten Garde aus ihren Ämtern, dann entfernt er sie aus der Partei. Zehn Jahre später bringt er fast die vollständige Führungsschicht der Bolschewiki um.
Nach ihrer Ermordung lässt Stalin jede Erinnerung an die in Ungnade gefallenen Genossen auslöschen. Fotos werden vernichtet und retuschiert, Namen unkenntlich gemacht, Existenzen geleugnet. Stalins Opfer sollen aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden.
Der rote Diktator
Stalins Grausamkeiten richten sich nicht nur gegen Partei, Armee und Verwaltung. Stalin terrorisiert das eigene Volk, er will dessen Willen brechen. Mit Gewalt führt er die Zwangskollektivierung der Bauern durch – die Bauern müssen ihre eigenen Höfe aufgeben und sich sozialistischen Großbetrieben anschließen.
Dies verursacht an der Wolga und in der Ukraine eine heftige Hungersnot. Mit derselben Menschenverachtung schickt er Millionen schlecht ausgerüsteter Rotarmisten an die Front, als der deutsche Diktator Adolf Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion überfällt.
Bis 1953 regiert Stalin die Sowjetunion mit rücksichtsloser Härte und bringt Tod und Verderben über das Volk. Schätzungen gehen von 20 Millionen Todesopfern durch den Stalinismus aus – darunter Millionen von Hungertoten durch Zwangskollektivierung, Millionen Deportierte, Millionen, die in den Gulags starben, und Millionen von Menschen, die im Zuge der so genannten "Säuberungen" hingerichtet wurden.
Tod durch Distanz
Privat erstarrt der Rote Diktator zum düsteren Denkmal, das er selbst geschaffen hat. Dem Volk zeigt er sich nicht mehr. Stalin lebt zurückgezogen, niemand kommt an ihn heran.
Letztlich kostet ihn die große Distanz, die er selbst zu seinen nächsten Untergebenen geschaffen hat, das Leben: Als er am 5. März 1953 in seinem Wochenendhaus bei Moskau einen Schlaganfall erleidet, traut sich niemand zu ihm ins Zimmer. Niemand will ohne seine Einwilligung handeln oder Entscheidungen treffen.
Statt eines Arztes wird das Politbüro verständigt. Als die Genossen Stunden später eintreffen, ist der Diktator tot.
(Erstveröffentlichung 2007. Letzte Aktualisierung 10.10.2018)