Stalin

Stalins und die Gewalt

Stalins Machtverständnis war geprägt von der Gesellschaft, in der er groß geworden war. Die Gewalt war der Schlüssel seines Machterhalts.

Von Gregor Delvaux de Fenffe

Vormoderne Prägung

Josef Stalin war kein Russe, sondern stammte aus dem Kaukasus, aus Georgien. Stalin war ein Bauer, kein Adliger wie Lenin. Er tat sich zeitlebens schwer mit der russischen Sprache, die er erst spät lernte und mit unverkennbarem Akzent sprach.

Stalin wuchs um die Jahrhundertwende auf, in einem Milieu ohne Rechtssicherheit, ohne Staat. Seine Prägung war vormodern, von archaischen Ritualen und dörflichen Ordnungen geprägt, in denen der Staat nie eine Rolle gespielt hatte.

In der Heimat seiner Kindheit herrschte gnadenlose Sozialdisziplin. Konflikte wurden mit Gewalt ausgetragen. Männliche Ehrvorstellungen prägten das Leben: Männerbünde, Loyalitäten, die bis auf den Tod ausgefochten wurden, sowie Rituale der Gewalt wie die Blutrache. Die Gewalt, die Stalin kannte, war so alltäglich, dass sie für ihn zum Prinzip wurde.

Propagandafoto: Rotarmist im Nahkampf | Bildquelle: akg-images GmbH

Milieu der Gewalt

"Kein Terror konnte grausam genug sein, um Stalins Rachsucht und Gewaltbedürfnisse zu befriedigen. Leben hieß, sich seiner Feinde zu entledigen", resümiert Jörg Baberowski, renommierter Stalin-Forscher an der Berliner Humboldt-Universität. Der Historiker plädiert für einen Zugang zu Stalin, der über seine kulturelle Prägung führt:

"Stalin wuchs in einer Umgebung auf, in der Gewalt die Beziehungen zwischen Menschen strukturierte. Blutrachefehden, Bandengewalt und ritualisierte Schlachten zwischen Arbeitern und Bauern aus unterschiedlichen Dörfern – das war die Wirklichkeit des jungen, georgischen Stalin. In einer solchen Umgebung konnte nur bestehen, wer mit überlegener Gewalt auftrat und tötete, bevor er selbst getötet wurde."

Reiterarmee im russischen Bürgerkrieg | Bildquelle: picture-alliance / akg-images

Todbringende Loyalität

Für Stalin bedeutete eine Meinungsverschiedenheit Verrat. Und Verrat hatte tödliche Konsequenzen. Stalins Konfliktverständnis war völlig entartet. Seine archaische Persönlichkeitsstruktur war das Produkt seiner kaukasischen Sozialisation.

Sein Gebaren glich dem mittelalterlicher orientalischer Potentaten. Er wähnte sich immerzu bedroht von Feinden. Gewalt war für ihn ebenso legitim wie unentbehrlich und eine Grundbedingung, ein Initiationsritus, um die ihm nahe Stehenden an sich zu binden.

Stalins Zirkel der Macht war ein kleiner Personenverband, in dem der Diktator Loyalität mit den äußersten Mitteln erzwang. Wer für Stalin arbeitete, musste selbst Schuld auf sich laden. Dadurch schuf der Diktator ein perfides System gegenseitiger Verstrickung. Wer nicht Opfer werden wollte, musste Opfer bringen.

Außenminister Molotow musste die Internierung seiner jüdischen Frau hinnehmen. Der Bruder von Stalins "Lieblingsschüler" Kaganowitsch kam in den Gulag. Die Frau von Stalins Sekretär Poskrebyschews vor ein Erschießungskommando.

Das waren für Stalin die höchsten Loyalitätsbeweise – und die einzigen. Alle engen Gefolgsleute Stalins waren Schergen. Wer sich weigerte, im tödlichen Spiel mitzumischen und Menschen dem sicheren Tod auszuliefern, erregte augenblicklich das Misstrauen des Diktators und lief dadurch Gefahr, selbst getötet zu werden.

Stalin (Mitte, 2. von links, neben Lenin) 1919 | Bildquelle: akg

Rituale der Macht

Angst prägte Stalins unmittelbare Umgebung, der Ausnahmezustand des Terrors wurde zum Dauerzustand. Jeder seiner Getreuen war immerwährend bedroht, in Ungnade zu fallen. Abend für Abend vergewisserte sich der Diktator aufs Neue der Loyalität seiner engsten Vertrauten, spielte sie gegeneinander aus und stellte sie auf die Probe. Stalin arbeitete bis in die Nacht und schlief morgens lange aus.

Am Tage leiteten seine Günstlinge ihre Ministerien und Behörden. Am Abend versammelte man sich dann beim Diktator. Wer von Stalin geladen war, gehörte dazu, war Mitglied am Hof des Herrschers. Und nur wer wirklich dazugehörte, war vorübergehend vor der Vernichtung sicher.

Die Abendgestaltung erfolgte nach einem festen Ritual. Stalin lud zu Filmvorführungen ein, anschließend traf man sich auf einem seiner Wochenendhäuser (Datschen) zu ausgiebigen Gelagen.

Dort testete Stalin dann die Treue seiner Vasallen in Einzelgesprächen, oder er ließ sie in Machtkämpfen um seine Gunst buhlen. Oft zwang er die Männer, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken.

Der sowjetische Politiker Nikita Chruschtschow erwähnt in seinen Erinnerungen eine Reihe von Demütigungen – er selbst musste einmal vor Stalin auf dessen Befehl tanzen. Wem der Diktator sein Vertrauen entzog, dem drohte oft schon am anderen Morgen die Verhaftung oder Ermordung.

Stalin auf dem 15. Parteitag der KPdSU 1927 | Bildquelle: picture-alliance / akg-images

Stalins Kreaturen

Der Kreislauf aus Gewalt, Terror und Angst funktionierte bis zu Stalins Tod 1953. Offenbar unternahm nie jemand aus seiner engsten Umgebung den Versuch, den Tyrannen zu beseitigen. Stalins Gefolgsleute waren seine Kreaturen, ihre Macht stammte von ihm. Sie dankten es ihm mit unterwürfiger Loyalität.

Bemerkenswerterweise war diese Form von Selbstaufgabe und Unterwürfigkeit seiner Anhänger echt. Sie sahen in Stalin ihren Patron, Meister, Visionär – sie nannten ihn sogar aus ganzer Seele "Vater". Daneben existierte außerdem die immerwährende Angst, Opposition oder gar einen Tyrannenmord nicht zu überleben oder im Zuge einer grundlegenden Verschiebung der Machtverhältnisse umzukommen.

Vermutlich sah sich von Stalins Parteigängern niemand in der Lage, in Stalins Fußstapfen zu treten und den Diktator zu beerben. Stalin erstarrte schon zu Lebzeiten zum Denkmal, zur Institution, ohne die die Welt nicht vorstellbar schien. Bis zu seinem Tod 1953 durch einen Schlaganfall genoss er bei seinen unmittelbaren Untergebenen höchsten Respekt, immer gepaart mit Furcht.

(Erstveröffentlichung 2007. Letzte Aktualisierung 10.10.2018)