Planet Wissen: Tagelang wurde im Sommer 2020 nach Ihrem Sohn Emil gesucht. Sie erfuhren viel Solidarität von der Frankfurter Bevölkerung. Viele suchten mit, doch dann kam die traurige Nachricht.
Alix Puhl: Als die Polizei uns mitgeteilt hatte, dass unser Sohn tot aufgefunden wurde, überlegten mein Mann und ich: "Was erzählen wir? " Wir befanden uns mitten im ersten Corona- bedingten Lockdown. Wir hatten bis dahin unserem gesamten Umfeld nicht erzählt, was in den Monaten zuvor passiert war, von Emils Erkrankung. Wollen wir erzählen, dass er sich das Leben genommen hat? Wollen wir erzählen, dass Emil eine Autismusspektrumsstörung hatt und an einer schweren Depression litt?
Sie haben sich dafür entschieden. Was passierte, nachdem Sie mit dieser Nachricht nach draußen gegangen sind?
Ab dem Zeitpunkt ging die Tür bei uns auf und zu. Freunde, Fremde, Bekannte fingen an, ihre Geschichten zu erzählen und sagten aber immer wieder: "Bitte erzählt es keinem weiter." Ein enger Freund erzählte uns zum ersten Mal, dass sich vor 25 Jahren sein Bruder das Leben nahm und er ihn fand. Und so kamen immer mehr Geschichten hinzu. Das ist heute noch so.
Wie haben Emils Mitschüler reagiert?
In der Schule unserer Kinder hat die Geschichte natürlich Wellen geschlagen, da alle Kinder die Suchplakate gesehen hatten, die in ganz Frankfurt verteilt waren. Damals blieb nur noch eine Woche bis zu den Sommerferien und diese hat die Schule als Trauerwoche genutzt. Schüler, die in den Unterricht gehen wollten, konnten das tun. Für alle anderen gab es die Möglichkeit, eine Kerze anzuzünden, mit Lehrern und Psychologen zu sprechen oder uns einen Brief zu schreiben. Eine Lehrerin schrieb uns, was sie jetzt von den Kindern hörte: "Das kenn ich das Gefühl." Oder: "Ich bin schon ganz lange krank." Oder: "Ich geh schon länger zur Therapie." Und plötzlich öffneten sich an dieser und auch anderen Frankfurter Schulen Tore, von denen keiner gedacht hatte, dass es diese Tore überhaupt gibt. Plötzlich hatte die Kinder einen Grund über sich und ihre Gefühle zu sprechen – auch untereinander. Auch zwei Jahre später sagen Kinder, denen es schlecht geht: "Ich fühle mich wie Emil."
Was haben diese Reaktionen in Ihnen ausgelöst?
Zunächst haben wir gemeinsam mit dem StadtschülerInnenrat Frankfurt zwei Schul-Suizidpräventionstage in Frankfurt organisiert. Inzwischen haben wir auch ein gemeinnütziges Unternehmen gegründet und sind schon ein größeres Team. Wir erstellen Lehrerfortbildungen zum Thema mentale Gesundheit, planen Fortbildungen für Eltern und wir möchten eine Website für Jugendliche kreieren. Das wird der größte Brocken.
Warum wird gerade die Website die größte Herausforderung?
Wir haben geschaut, auf welchen Seiten unser Sohn unterwegs war und nach Hilfe gesucht hat. Das waren keine guten Seiten. Das möchten wir ändern. Gemeinsam mit Jugendlichen, wir nennen sie "game.changer" wollen wir dem einen anderen, wissenschaftlich evaluierten Inhalt entgegensetzen; einen Ort, an dem sich Kinder und Jugendliche über psychische Erkrankungen, deren Folgen, die Behandlungsmöglichkeiten und Heilungschance informieren können.