Das Rattenproblem
Ratten zählen zu den Kulturfolgern des Menschen. Sie fressen das gerne, was auch wir mögen. Deshalb sind sie auch Nahrungskonkurrenten für uns Menschen, zumindest in Zeiten der Dürre.
Eingelagertes Getreide gehört mit zu ihrem Speiseplan und wenn es außerhalb nicht mehr viel zu fressen gibt, leeren Ratten manches Getreidedepot im Nu.
Die Nähe zum Menschen wirft auch noch ein anderes Problem auf: Ratten übertragen, wie auch andere Nagetiere, gefährliche Krankheiten.
Spätestens seit dem Mittelalter werden Ratten erbarmungslos verfolgt. Ihre Intelligenz, die hohe Vermehrungsrate und eine ausgeklügelte Sozialstruktur machen ihre Bekämpfung allerdings zu einer Herausforderung für den Menschen. Bis heute haben wir das Rattenproblem nicht richtig im Griff.
Blinder Passagier der Handelsflotte
20. Mai 1498: Portugiesische Schiffe erreichen die Malabarküste Indiens. Vasco da Gama führt die Flotte an – er ist der erste Europäer, der auf dem Seeweg Indien erreicht hat.
Im Hafen Kalikut ankert die Flotte. Kalikut gilt als der Hauptumschlagplatz für Gewürze – damals wie heute ein Luxusgut. Am 8. Oktober tritt Vasco da Gama die Rückreise an, die Schiffsbäuche gefüllt mit kostbaren exotischen Gewürzen.
Vasco da Gama brachte die Ratten mit aus Indien
Aber unbemerkt von Kapitän und Matrosen ist die Schiffsfracht um eine weitere exotische Komponente erweitert: Kleine, dunkle pelzige Schatten huschen zwischen Kisten und Säcken mit Gewürzen umher. Es gibt blinde Passagiere an Bord!
Rattus rattus – die Schwarze Ratte. Asiatische Tiere, die ihre Neugier und der Geruch der Bordverpflegung zu den Schiffen lockt. Die geschickten Kletterkünstler benutzen die dicken Taue, mit denen das Schiff am Hafen festgemacht ist, als bequemen Steg an Deck.
Ein Jahr später läuft da Gamas Flotte im Heimathafen ein und Rattus rattus betritt europäischen Boden. Diese Ratten sind allerdings nicht die ersten südostasiatischen Immigranten ihrer Art. Schiffe bringen unfreiwillig schon seit dem frühen 13. Jahrhundert Ratten nach Europa, wo die intelligenten Nager in menschlichen Besiedlungen beste Überlebensbedingungen vorfinden.
Sie vermehren sich prächtig und hausen von nun an auf mittelalterlichen Kornspeichern, die ihnen Unterschlupf und reichlich Nahrung bieten.
Die Ratte kommt in Verruf
Der Mensch hat es von nun an mit einem ernsthaften Nahrungskonkurrenten zu tun. Die Vorliebe der Schwarzen Ratte – auch Haus- oder Dachratte genannt – für die Getreidevorräte der Bauern bringt ihr nicht gerade Sympathiepunkte ein.
Da die Tiere in großen Familiensippen über die Vorräte herfallen, ist der Schaden oftmals verheerend und versetzt die Menschen in wahre Existenznöte.
Nicht die Ratten, aber ihre Flöhe übertrugen die Pest
Und schlimmer noch: Das eingeschleppte Rattenvolk ist eine Brutstätte für gefährliche Krankheiten. Diese Gefahr geht natürlich nicht ausschließlich von Ratten aus – auch andere Wildtiere übertragen Krankheiten. Die Ratten aber kommen dem Menschen gefährlich nahe.
Im 14. Jahrhundert beginnt ein dunkles Kapitel in der europäischen Geschichte. In Europa sterben fast 25 Millionen Menschen an der Pest.
Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wütet diese schreckliche Krankheit, der man nicht Herr zu werden vermag. Die Pest gibt es, seit Rattus rattus hier ist, die Wurzel des Übels scheint gefunden.
Aber im Grunde genommen sitzt das Übel tiefer. Nämlich im Pelz des verhassten Nagers: Xenopsylla cheopis – der Rattenfloh. Der beherbergt nämlich das Pestbakterium Yerstinia Pestis und injiziert es bei jeder Blutmahlzeit in seine Opfer – und das sind vorzugsweise Ratten.
Verendet das infizierte Tier und ist keine andere Ratte in der Nähe, nimmt der Rattenfloh mit dem Menschen vorlieb. Das Pestbakterium hat einen neuen Wirt, unter dessen Artgenossen es sich leicht verbreiten kann.
Die Schwarze Ratte bekommt Konkurrenz
Ende des 18. Jahrhunderts hat man in Europa die Pest weitgehend unter Kontrolle. Nicht aber die Ratten – im Gegenteil. Inzwischen haben Handelsflotten einen neuen Nager im Gepäck: Rattus norvegicus, die Wanderratte, einen zentralasiatischen Steppenbewohner mit eher unterirdischer Lebensweise.
In ihrer neuen europäischen Heimat siedelt sie sich nicht wie die Hausratte in den oberen Etagen von Wohnhäusern und Getreidespeichern ein. Bevorzugtes Territorium der Wanderratte sind Kellerräume und die Kanalisation. Auch Müllhalden besiedeln die Tiere gerne.
Obwohl sich Haus- und Wanderratte, was ihre Aufenthaltsorte betrifft, nicht ins Gehege kommen, ist die Wanderratte erfolgreicher und vermehrt sich stark.
Seit 1975 steht die Hausratte – im Mittelalter hätte man sich das nicht träumen lassen – auf der Roten Liste des Washingtoner Artenschutzabkommens der gefährdeten Tierarten in Mitteleuropa.
Blutige Kämpfe und Tierversuche
Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt sich in England aus der Rattenplage ein zweifelhaftes sportliches Ereignis. Man fängt Ratten ein, um sie in Schaukämpfen gegen Terrier antreten zu lassen. 1861 liegt der Weltrekord eines Terriers bei 25 tot gebissenen Ratten in einer Minute.
Auf der Pirsch nach Rattennachschub fängt man ab und zu auch mal eine Albino-Variante. Diese werden nicht bei den Terrierkämpfen eingesetzt, sondern in Ausstellungen gezeigt und weitergezüchtet. Die weißen zahmen Ausstellungsratten sind nicht nur hübsch anzuschauen – sie wecken auch das Interesse auf ganz anderer Seite.
Bereits im 19. Jahrhundert wurde mit Ratten experimentiert
Wissenschaftler sind schon lange auf der Suche nach Möglichkeiten, Medikamente oder neue chirurgische Methoden vor ihrem Einsatz am Menschen an einem lebenden Modell zu testen. Die Albinoratten scheinen ideal dafür.
Anstatt im Rachen eines Terriers zu enden, wandern die Tiere nun in medizinische Laboratorien. So entstehen spezielle Züchtungslinien für Labore, wie beispielsweise die Wistar-Ratte.
Stressresistenz, Fruchtbarkeit und Anfälligkeit für Infektionen: Je nach Bedarf sind die Zuchtziele unterschiedlich. Heute gibt es mehr als 450 Laborvarianten – alle stammen von der Wanderratte ab.
Gut ein halbe Million Tiere werden nach Angaben des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz allein in Deutschland jährlich in Tierversuchen getötet.
Der Sprung in unser Heim
Wer mit Ratten arbeitet, findet schnell Gefallen an ihrer Intelligenz, Neugier und Zutraulichkeit. So ziehen mehr und mehr Ratten von ihren Plastik-Gefängnissen im Labor ins gemütliche Heim des Menschen um. Das ist der Start ins Heimtier-Rattenleben.
In den 1980er-Jahren gelten die zahmen Ratten als Schocker-Accessoire der Punker. Ihre "Schulterratte" vereint zwei Eigenschaften: Man schätzt einerseits die Ekel-Wirkung, die Ratten nach wie vor auf Passanten ausüben können, andererseits ist der Nager ein kuscheliger Kamerad, ein Schmusetier.
Ratten sind zahme Haustiere
Die Zeiten auf den Schultern der Punks sind für Ratten nahezu vorbei. Doch den Heimtier-Ratten, allgemein "Farbratten" genannt, geht es heute noch besser als damals. Schätzungsweise 200.000 solcher zahmen Ratten führen inzwischen ein Luxusleben in menschlichen Behausungen – zusammen mit Artgenossen und verwöhnt von Herrchen oder Frauchen.
Die Fangemeinde wächst, die Tierfutterindustrie und Veterinärmedizin hat sich inzwischen mit perfekten Futtermischungen und medizinischer Versorgung auf diese Klientel eingestellt.
Quelle: SWR | Stand: 10.01.2020, 09:50 Uhr