Vom Rinnsal zum spektakulären Fluss
Immer wieder hat die Oder für Schlagzeilen gesorgt, sei es durch die Diskussion um die Grenzmarkierung zu Polen oder durch die Hochwasserkatastrophe von 1997.
Viele Jahrzehnte lang war die Quelle der Oder bei Oderské vrchy im Mährischen Gebirge abgeriegelt, weil sich dort während des Kalten Kriegs ein Militärgebiet befand. Seit 1991 ist die Quelle wieder für alle zugänglich.
Was erblickt man dort, 632 Meter über dem Meeresspiegel? Ein kleines unspektakuläres Rinnsal, das sich über eine Strecke von 912 Kilometern zu einem mitunter wilden und weit verzweigten Strom entwickeln wird. Bevor er nach seiner langen Reise bei Swinemünde in die Ostsee fließt, durchquert der Fluss Tschechien, Polen und Deutschland.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bildet die Oder auf 162 Kilometern die Grenze zwischen Deutschland und Polen. In der abgeschiedenen Grenzregion konnte sie sich bis heute besonders ursprüngliche Landschaften und eine außergewöhnliche Fauna und Flora bewahren.
Bekannt ist die Oder durch die größten Auenlandschaften Mitteleuropas, die während der Hochwasserzeiten viel Wasser aufnehmen und aus der Vogelperspektive wie große Seen anmuten. Weil die Oder aber auch extreme Niedrigwasserperioden kennt, wird sie von vielen Anwohnern "Steppenfluss" genannt.
Warum die Oder so viel kürzer wurde
Der Name Oder – die Slawen nennen ihn Odra – geht aus dem altindischen Sanskrit hervor und heißt so viel wie "der Fluss, der ständig seinen Lauf ändert". Und tatsächlich verlief die unbändige Oder früher ganz anders. Der Grenzfluss wurde im Jahre 1741 um fast ein Viertel seiner Länge gekürzt.
Zu verdanken hat er das der damaligen preußischen Regierung: Die beschloss, den vielarmigen Strom für die Schifffahrt zu bändigen. So wurden zahlreiche Mäander abgeschnitten, Flussufer begradigt und schließlich im Bereich des Oderbruchs der Strom von West nach Ost verlegt. Seitdem ist der Fluss um ganze 190 Kilometer kürzer.
Die radikale Kürzung brachte Vorteile, nicht nur für die Schifffahrt, sondern auch für die Bewohner der Auen-Region: Jahrhundertelang hatten die Menschen im Oderbruch mit ständigen Überschwemmungen gelebt. Große Ansiedlungen am Fluss waren auf diesem Sumpfgebiet kaum möglich gewesen.
Einige Orte waren so klein, "dass sie nicht mal über eine Kirche oder einen Friedhof verfügten. Der Pfarrer kam per Kahn zum Gottesdienst ins Oderbruch und die Toten traten ebenfalls auf dem Wasserweg zu den Friedhöfen […] der Städte am Oderbruchrand an", schreibt Kathrin Wolff in ihrem Buch über die Oder.
Durch die Verlegung der Oder entstand rund um die alte Oder eine äußerst fruchtbare Fläche im Oderbruch. Und das war in jeder Hinsicht ein Neuanfang.
Das Oderbruch: ein Sumpfgebiet wird zum Gemüsegarten
Das Oderbruch ist die jüngste künstlich geformte Landschaft in Brandenburg. Der preußische König Friedrich II. wollte Leben und eine Infrastruktur in die ständig überschwemmte Fluss-Auenlandschaft bringen, zwischen Lebus, Küstrin und Bad Freienwalde, nördlich von Frankfurt an der Oder.
In dieser Region gab es Sümpfe und Moore, weit verzweigte Flussadern und immer wieder einen harten Kampf zwischen Mensch und Wasser.
Schon im Mittelalter versuchten sich die wenigen Menschen, die am Bruch lebten, mit Schutzwällen gegen die ständigen Überschwemmungen zu wehren – oft vergebens. Die Gegend galt als lebensfeindlich. Dann kam Friedrich II. Der König blies zur großen Trockenlegung der etwa 56 Kilometer langen und 20 Kilometer breiten Sumpffläche.
Eine große technische und bevölkerungsstrategische Leistung: 1753 wurde die alte Oder bei Güstebiese einfach abgeriegelt und der Fluss in ein neues Bett geführt. Ein Schweizer Mathematiker lieferte für diese spektakuläre Flussverlegung alle wichtigen Berechnungen.
Der begradigte Fluss verringerte die Überschwemmungsgefahr erheblich, gleichzeitig wurde jede Menge fruchtbarer Siedlungsboden frei. Auf diesem Ackerland sollte eine neue Kolonie entstehen. Insgesamt 6137 Auswanderer ließen sich nach und nach im Oderbruch nieder, darunter viele Ausländer und Verfolgte.
Viele waren Bauern oder Wollspinner aus Mecklenburg, Sachsen, Schweden, Polen, Frankreich oder der Schweiz. Der fruchtbare Boden war wie ein Paradies für die Bauern, selbst die bis dahin skeptischen Fischer konnten die Vorteile der Trockenlegung nicht von der Hand weisen.
Großflächig konnten Zuckerrüben angebaut und gleichzeitig in den Fabriken vor Ort veredelt werden. Getreide, Raps, Gemüse und sogar Tabak wurde dort erfolgreich geerntet.
Vor den Toren Berlins war ein großer "Gemüsegarten" entstanden, der durch neue Brücken und Straßen ganzjährig zu erreichen war. Die vielen Wollspinner-Familien widmeten sich der Verarbeitung von Seide, Wolle und Flachs. Auf der Oder konnte die Ware zu neuen Absatzmärkten reisen. Das wirtschaftliche Leben der Region florierte in dieser Form bis 1945.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele der Großgrundbesitzer enteignet, das Land unter den Arbeitern aufgeteilt. Die Regierung der DDR machte aus vielen Bauernhöfen sogenannte Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG). Noch heute finden sich im Oderbruch zahlreiche historische Museen, die den wirtschaftlichen Aufstieg der Region dokumentieren.
Im Friedrichsthal in der Nähe von Schwedt, etwa auf der Hälfte der Strecke zwischen Stettin und Frankfurt, hat gar der Tabakanbau bis heute überlebt. In zahlreichen weiträumigen Scheunen hängen dort noch die Tabakpflanzen auf den typischen Schnüren zum Trocknen aus.
Sonnenaufgang im Oderbruch
Unteres Odertal: die Natur hat das Kommando
Im Unteren Odertal, zwischen Hohenstaaten und Stettin, hat die Natur still und heimlich das Kommando übernommen. Nach 1945 wurde das etwa 60 Kilometer lange Grenzgebiet mehr oder weniger sich selbst überlassen.
In diesen Jahrzehnten entwickelte sich eine faszinierende Flusslandschaft: Im Zwischenoderland erwartet den Besucher das größte intakte Überflutungsgebiet mit weit verzweigten Auenlandschaften. Die Tier- und Pflanzenwelt in diesem Landstrich ist so vielfältig, dass das Untere Odertal 1995 zum deutsch-polnischen Nationalpark erklärt wurde.
In den Wasserläufen, Sumpfgebieten und Moorflächen findet man emsiges Leben: Seerosen knüpfen hier noch ganze Teppiche, die Sumpfdotterblume bevölkert weite Landstriche. Einzigartige Schwimmfarne sind hier zu Hause.
Mehr als 200 Vogelarten haben sich im Nationalpark niedergelassen, darunter sehr seltene Exemplare, wie der Seeadler, der Kranich oder der Seggenrohrsänger. In den zahlreichen Flussarmen tummeln sich Biber und Fischotter und mit ihnen etwa 20 verschiedene Amphibien- und Reptilienarten.
Die Fischwelt ist mindestens genauso bunt: Bis zu 36 Fischarten werden dort jährlich gezählt. Der Nationalpark umfasst etwa 10.000 Hektar auf der deutschen und rund 6000 Hektar auf der polnischen Seite. Das Gebiet gilt als Totalreservat und ist nur für Wissenschaftler oder Mitarbeiter des Nationalparks zugänglich.
Die faszinierende Oderwelt kann aber trotzdem von Besuchern bestaunt werden. Viele Rad- und Wanderwege am Rande des Nationalparks führen den Naturfreund immer wieder zu Aussichtspunkten, die den Blick auf die unversehrte Auenlandschaft freigeben.
Nationalpark Unteres Odertal
Denn zum Nationalpark gehören auch die angrenzenden Talhänge, auf denen zum Teil sehr seltene Baumarten und Blumen ihre Wurzeln geschlagen haben: Mit ein wenig Glück erblickt man die seltene Flaumeiche, die es sonst nirgendwo in Brandenburg gibt.
Auch der Kreuz-Enzian und die Sibirische Glockenblume erblühen hier im Sommer. Die Glockenblume gilt als Steppenpflanze und hat es irgendwann aus der sibirischen Steppe, wo sie ursprünglich zu Hause ist, bis an die Oderhänge geschafft.
(Erstveröffentlichung: 2005. Letzte Aktualisierung: 15.06.2020)
Quelle: WDR