Elbe
Dorfrepublik Rüterberg
Die Gemeinde Rüterberg am Elbufer lag zu DDR-Zeiten mitten im Grenzgebiet. Die Bewohner mussten beim Betreten und Verlassen des Ortes jedes Mal ihre Papiere vorzeigen. Nach dem Fall der Mauer gab sich der Ort den Beinamen "Dorfrepublik Rüterberg".
Von Christina Lüdeke
Von der Außenwelt abgeschnitten
Seit 1340 existiert am Ostufer der Elbe das heutige Rüterberg. Um 1900 entstanden zwei Ziegeleien am Ort, für das Dorf wichtige Arbeitgeber. Ab 1945 bildete die Elbe auf 95 Kilometern die Grenze zur sowjetischen Besatzungszone. Das auf einer Landzunge gelegene Rüterberg wurde so über Nacht zum Grenzdorf, von drei Seiten umschlossen von der britischen Zone.
Zwei sowjetische Kommandanturen ließen sich hier nieder. Ab 1952 gab es verstärkte Kontrollmaßnahmen im Grenzdorf Rüterberg: Verschiedene Familien mussten ihre Häuser räumen und wurden umgesiedelt. Am Elbufer ließen die DDR-Machthaber einen Grenzzaun bauen.
Die Situation Rüterbergs war besonders problematisch, weil der Grenzverlauf im Elbabschnitt insgesamt nicht klar geregelt war. Nach DDR-Lesart verlief die Grenze in der Mitte des Flusses. Der "Westen" vertrat die Ansicht, erst das östliche Ufer der Elbe sei die Grenzlinie.
Aufgrund dieses Konflikts kam es 1966 bei Vermessungsarbeiten auf der Elbe zur sogenannten "Schlacht von Gorleben". Jede Seite beschuldigte die andere, in die fremden Hoheitsgewässer eingedrungen zu sein. Letztendlich wurde dabei deutlich, dass die DDR-Grenztruppen ihre Kontrollen nur bis zum Ostufer der Elbe durchsetzen konnten.
Infolge dessen wurde im Frühjahr 1967 um das Dorf Rüterberg ein zweiter Zaun errichtet. Die rund 150 Bewohner waren nun vollständig eingeschlossen und konnten ihr Dorf nur über ein streng bewachtes Grenztor unter Vorlage ihres Personalausweises betreten. Auswärtige Besucher benötigten eine Sondererlaubnis. Ab 23 Uhr blieb das Tor bis zum Morgengrauen geschlossen. Noch 1988 wurde der Zaun durch ein neues stabileres Modell ausgetauscht.
Das ehemalige Grenzdorf
Geburtsstunde der Dorfrepublik
Besonders diese letzte Verstärkung des Grenzzaunes empfanden die Dorfbewohner als Provokation. Der Unmut wuchs. Hans Rasenberger, der Leiter des Dorfklubs, beantragte deshalb am 24. Oktober 1989 bei den Behörden in Ost-Berlin eine Einwohnerversammlung.
Die Versammlung wurde für den 8. November 1989 bewilligt. 90 Rüterberger, aber auch ein Vertreter vom Rat des Kreises Ludwigslust, ein höherer Offizier der Grenztruppen und der Leiter des Volkspolizeikreisamtes setzten sich zusammen und berieten über eine ungewöhnliche Idee Rasenbergers.
Rasenberger hatte sich bereits mehrere Jahre zuvor mit der Geschichte der Schweiz und den dortigen Dorfgemeinschaften beschäftigt. Während der Versammlung verteilte er ein Papier mit dem Vorschlag, die Urform der schweizerischen Demokratie zum Vorbild für Rüterberg zu wählen und sich somit eigene Gesetze für das Dorf schaffen zu können.
Alle stimmten zu und erklärten ihren Ort zur "Dorfrepublik". Man wollte sich nicht länger bevormunden lassen – nicht ahnend, dass bereits am nächsten Tag in Berlin die deutsch-deutsche Grenze geöffnet werden sollte.
Von der Grenzöffnung merkten die Rüterberger ohnehin erst einmal nichts: Auch nach der Maueröffnung wurden die Kontrollen in Rüterberg noch mehrere Tage lang aufrechterhalten – was zu der absurden Situation führte, dass ein DDR-Bürger nun zwar in den Westen reisen konnte, aber immer noch nicht nach Rüterberg kam. Schließlich wurden die Wachen klammheimlich abgezogen, irgendwann war dann auch das Wachtor verschwunden.
Die Bezeichnung "Dorfrepublik" bestand noch einige Zeit fort. Im Jahr 1991 verlieh der damalige Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern der Gemeinde das Recht, die Bezeichnung "Dorfrepublik Rüterberg 1967-1989" zu führen, beispielsweise auf Straßenschildern.
Von den ehemaligen Grenzsicherungsanlagen ist nur noch wenig erhalten. Zu sehen ist ein Stück des drei Meter hohen Metallgitterzauns, das einstige Tor zum Dorf sowie der elf Meter hohe Befehlsturm der Grenztruppen auf dem Rüterberg. Im Jahr 2004 wurde Rüterberg in die Stadt Dömitz eingemeindet.
Wachturm an der Grenze in Rüterberg
Elbe als Grenzfluss
Insgesamt bildete die Elbe von Schnackenburg bis kurz vor Lauenburg die deutsch-deutsche Grenze. Bis 1961 war sie weitgehend nicht durch Anlagen befestigt, also eine sogenannte grüne Grenze. In den folgenden Jahren wurde der Grenzbereich jedoch zum Sperrbezirk erklärt und immer schärfer bewacht. Während dieser Zeit wurde die gesamte Grenzlinie zwischen der DDR und der BRD umfangreich ausgebaut, mit Grenzzäunen versehen und teilweise vermint.
Eine Situation, die nicht nur die Bürger, sondern auch die Wirtschaft der DDR enorm belastete: Zwischen 1961 und 1964 sollen Kosten von 1,8 Milliarden DDR-Mark für den Ausbau der Grenze angefallen sein, davon etwa 400 Millionen DDR-Mark für den Bau der Berliner Mauer.
Die laufenden Kosten werden pro Jahr auf rund 500 Millionen DDR-Mark geschätzt. Allein der Grenzzaun, der 1988 rund um Rüterberg den vorherigen Zaun ablöste, soll rund elf Millionen DDR-Mark gekostet haben.
Weitgehend unberührt von Menschen konnte sich allerdings in den Sperrbezirken die Natur ungestört entwickeln. So blieb auch in den Grenzbereichen der Elbe eine erstaunliche Artenvielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt erhalten.
Grenzzaun in Rüterberg
(Erstveröffentlichung: 2007. Letzte Aktualisierung: 31.08.2020)
Quelle: WDR