Geschlechtsbestimmung
Bei einigen Lebewesen geschieht die Bestimmung des Geschlechts durch Umwelteinflüsse. Bei Mississippi-Alligatoren beispielsweise ist die Temperatur während der Brut der Eier entscheidend. Bei Bruttemperaturen von etwa 30 Grad Celsius schlüpfen ausschließlich Weibchen, bei Temperaturen von etwa 34 Grad Celsius überwiegend Männchen. Ähnliches gilt auch für verschiedene Schildkrötenarten.
Während der embryonalen Entwicklung des Menschen im Mutterleib spielen weder Temperatur noch andere äußere Faktoren eine geschlechtsbestimmende Rolle. Bei allen Säugetieren, und somit auch bei den Menschen, ist das Geschlecht genetisch festgelegt. Wie alle genetischen Informationen liegen auch die des Geschlechts auf den Chromosomen.
Der menschliche Organismus besitzt zwei Arten von Geschlechts-Chromosomen: Das X-Chromosom und das Y-Chromosom. Jede Körperzelle der Frau enthält neben den in beiden Geschlechtern gleichen 44 Chromosomen (Autosomen) zwei X-Chromosomen als Geschlechts-Chromosomen (Gonosomen). Die Körperzellen des Mannes hingegen enthalten ein X-Chromosom und ein Y-Chromosom.
Neben den Körperzellen besitzen Mann und Frau Zellen, die auf die Fortpflanzung spezialisiert sind: Eizellen und Spermien. Eizellen und Spermien enthalten nur die Hälfte an Chromosomen und somit auch nur jeweils ein Geschlechtschromosom. Jede Eizelle der Frau enthält also ein X-Chromosom.
Der Mann hingegen produziert zwei Arten von Spermien: Die eine Hälfte enthält ein X-Chromosom, die andere Hälfte ein Y-Chromosom. Deshalb wird das Geschlecht eines Menschen im Moment der Befruchtung bestimmt.
Dringt ein Spermium mit einem X-Chromosom in die Eizelle ein, trägt der Embryo zwei X-Chromosomen und entwickelt sich zum weiblichen Organismus. Befruchtet dagegen ein Spermium mit einem Y-Chromosom die Eizelle, ist das Ergebnis XY und es entwickelt sich ein männlicher Organismus.
Letztendlich ist also der Vater derjenige, wenn auch ohne jegliche Möglichkeit der Einflussnahme, der das Geschlecht seiner Nachkommen bestimmt. Die Geschlechtsbestimmung bleibt zufällig. Eine 50:50-Chance für weiblich oder männlich.
Das Y-Chromosom
Das Y-Chromosom des Mannes ist wesentlich kleiner als das X-Chromosom und trägt mit ein paar Dutzend Genen auch viel weniger Erbinformationen als das X-Chromosom, das mehr als 1000 Gene hat. Einige Gene auf dem Y-Chromosom und dem X-Chromosom gleichen sich, sie sind homolog.
Zu anderen Genen auf dem Y-Chromosom gibt es keine homologe Entsprechung auf dem X-Chromosom. Dazu gehört auch das sogenannte SRY-Gen. Ein britisches Forscherteam identifizierte in den 1990er-Jahren dieses Gen, das die Entwicklung des Embryos in Richtung männlicher Organismus lenkt. Sie nannten das Gen "Sexbestimmende Region des Y-Chromosoms" (SRY).
Zu Beginn der Schwangerschaft zeigen Embryonen noch keine geschlechtspezifischen Unterschiede. Männliche und weibliche Embryonen entwickeln zunächst identisch aussehende Geschlechtshöcker und -falten als Vorstufe der Geschlechtsorgane.
Noch können sich diese Anlagen in weibliche und männliche Richtung entwickeln, wobei die Entwicklung zum weiblichen Organismus die Grundform darstellt. Für die Entwicklung eines männlichen Erscheinungsbildes sind zusätzliche genetische Informationen notwendig. Fehlen diese Informationen, entwickelt sich der Embryo automatisch zum weiblichen Organismus.
Bei X,Y-Embryonen wird etwa ab der siebten Schwangerschaftswoche das SRY-Gen angeschaltet. Das SRY-Gen setzt eine Reihe von Prozessen in Gang, die zum männlichen Embryo führen. Die Hoden entwickeln sich. In ihnen wird erstmals das männlichste aller Hormone produziert: Testosteron. Ab jetzt stehen die Weichen auf Mann.
Geschlechtsgebundene Erbkrankheiten
Neben ihrer Funktion bei der Geschlechtsbestimmung tragen die Geschlechts-Chromosomen, hauptsächlich das größere X-Chromosom, zahlreiche Erbinformationen, die nichts mit der Entwicklung des Geschlechts zu tun haben. So können auf dem X-Chromosom auch Gene für verschiedene Erbkrankheiten liegen. Eine dieser Erbkrankheiten ist die Bluterkrankheit (Hämophilie).
Verfolgt man die Stammbäume europäischer Königshäuser, in denen die Bluterkrankheit gehäuft auftritt, stellt man schnell fest, dass überwiegend die männlichen Familienmitglieder von der Krankheit betroffen sind. Daraus kann man schließen, dass es sich um eine sogenannte X-chromosomale Vererbung der Krankheit handelt.
Auf dem X-Chromosom liegt ein Gen, das für die Bildung eines Blutgerinnungsfaktors verantwortlich ist. Bei der Bluterkrankheit ist dieses Gen defekt und somit die Blutgerinnung gestört.
Frauen besitzen zwei X-Chromosomen. Sollte auf einem dieser X-Chromosomen das Blutgerinnungs-Gen defekt sein, kann immer noch eine ausreichende Menge des Blutgerinnungsfaktors durch das entsprechende Gen auf dem zweiten X-Chromosom gebildet werden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass das Gen auf beiden Chromosomen defekt ist, ist sehr gering. Hat jedoch ein Mann ein defektes Gen auf dem X-Chromosom geerbt, bricht die Krankheit auf jeden Fall aus, da er kein zweites X-Chromosom besitzt, um den Defekt auszugleichen. Auf dem kleinen Y-Chromosom fehlt das entsprechende Gen.
In den Adelshäusern Europas war vermutlich Leopold, der Sohn von Königin Viktoria von England, der erste Bluter. Er hatte das mutierte und somit defekte Gen von seiner Mutter geerbt. Viktorias Töchter litten durch ihr zweites gesundes X-Chromosom nicht an der Krankheit, trugen auf dem zweiten X-Chromosom aber das defekte Gen.
Durch ihre Eheschließungen kam so das Bluter-Gen in die königlichen Familien von Preußen, Russland und Spanien. Der alte Brauch, politische Allianzen durch königliche Eheschließungen zu stärken, verhalf der Bluterkrankheit so zu einer auffälligen Ausbreitung über mehrere Königshäuser.
Weitere X-chromosomal vererbte Krankheiten sind beispielsweise Farbenblindheit und die Duchennesche Muskeldystrophie. Menschen, die an Duchennescher Muskeldystrophie erkrankt sind, haben nur eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwa 20 Jahren. Die Betroffenen leiden an zunehmender Muskelschwäche und Koordinationsstörungen.
Störungen der geschlechtlichen Entwicklung
Bei etwa 0,3 Prozent aller Neugeborenen tritt eine Fehlverteilung der Geschlechts-Chromosomen auf. Das Muster der Geschlechtschromosomen weicht dann vom normalen XX für "weiblich" und XY für "männlich" ab. Bei diesen Störungen handelt es sich nicht um Erbkrankheiten, sondern um Fehler bei der Verteilung der Chromosomen auf die Geschlechtszellen während deren Bildung. Die Störungen sind somit angeboren und nicht vererbt.
Fehlt ein X-Chromosom, spricht man von der X0-Monosomie oder vom Turner-Syndrom. Die Betroffenen haben ein weibliches Erscheinungsbild, bilden jedoch keine funktionstüchtigen Eierstöcke und sekundären Geschlechtsmerkmale aus. Zusätzlich können sich Symptome wie Kleinwuchs, Herz-, Gefäß-, Nieren- und Knochenmissbildungen zeigen.
Ein weiteres Beispiel ist das sogenannte Triple-X-Syndrom. Hier kommt das X-Chromosom dreimal vor. XXX-Frauen sind in der Regel aber körperlich unauffällig und fruchtbar.
Kommt bei vorhandenem Y-Chromosom das X-Chromosom zweimal vor, spricht man vom XXY-Zustand beziehungsweise vom Klinefelter-Syndrom. Durch das Y-Chromosom entwickeln sich Betroffene zu Männern. Ihre sekundären Geschlechtsmerkmale können normal entwickelt sein, jedoch können Klinefelter-Männer keine Spermien produzieren.
Auch das Y-Chromosom kann zweifach vorliegen. Die Diplo-Y-Männer sind überdurchschnittlich groß, ansonsten aber körperlich unauffällig. Ihre Zeugungsfähigkeit ist in den meisten Fällen uneingeschränkt.
(Erstveröffentlichung: 2006. Letzte Aktualisierung: 17.03.2020)