Die ersten Jahre der Taliban-Herrschaft
In keinem Land der Welt wurde die Scharia – das religiös legitimierte, unabänderliche Gesetz des Islam – strenger ausgelegt als in Afghanistan. Diplomatisch war das Land isoliert. Es wurde nur von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten anerkannt und die Bevölkerung hungerte.
Dabei wurden die Taliban zunächst von großen Teilen der Bevölkerung willkommen geheißen, als sie nach dem Abzug der Sowjetunion 1989 und einem Bürgerkrieg wieder für Ordnung im Land sorgten. Gestützt wurden die "Schüler" – so die wörtliche Übersetzung – auch durch den pakistanischen Militärgeheimdienst.
Sogar die USA sahen in den sunnitischen Gotteskriegern zunächst einen stabilisierenden Faktor für die Region, und man fand durchaus Gemeinsamkeiten: zum Beispiel im Konflikt mit dem schiitisch geprägten Iran.
Gründungslegende der Taliban
Wer begreifen will, wie es zu solch einer fatalen Fehleinschätzung kommen konnte, muss sich die Zustände in Afghanistan in den Jahren nach dem Abzug der sowjetischen Truppen genauer ansehen.
Es herrschte das Gesetz des Stärkeren, ein fürchterlicher Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden Warlords. Ständig verschoben sich die Mächte, es gab kein Gesetz. Jeder Mann, der eine Waffe besaß, nahm sich, was er brauchte: das Brot seines Nachbarn, dessen Frau und Besitz – ohne juristische Folgen. Dieses Chaos herrschte über Jahre.
Und in genau diesem Klima bildete sich eine zunächst kleine örtliche Miliz, deren Gründungslegende wie folgt erzählt wird: Nachdem ein Kommandeur zwei Mädchen entführt und vergewaltigt hatte, trommelte Mullah Omar, der damals ein Dorfschullehrer für religiöse Studien in Kandahar war, seine Studenten-Truppe zusammen. Sie stellten den Vergewaltiger und hängten ihn auf.
Der Beifall war groß, die Bevölkerung dachte: Endlich sorgt mal jemand für Recht. Und so fanden sich auch unter den Mudschaheddin immer mehr Taliban-Anhänger. So wurden die Taliban zu einer wachsenden, bewaffneten Bewegung.
Tatsächlich handelte es sich bei den Taliban der ersten Jahre wohl vor allem um paschtunische Flüchtlinge, die in Pakistan ausgeharrt hatten, sowie um Veteranen des Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer.
Nachwuchs für die Gotteskrieger
Nachschub für die Gotteskrieger kam aus den Koranschulen Pakistans. Weshalb aber aus dem Nachbarland? Zum einen lebten aus der Zeit der sowjetischen Besatzung sehr viele Afghanen in Pakistan in den Flüchtlingslagern, zum anderen gehörten sie demselben Volk an: den Paschtunen. Dieses Volk wird durch die umstrittene afghanisch-pakistanische Grenze, die Durand-Linie, geteilt.
An Nachwuchs mangelte es den Taliban also nicht, denn wer bereits als Kind ihre strengen Richtlinien eingebläut bekommen hatte, gehörte bereits zu ihren Sympathisanten. Auch an Geld fehlte es nicht, denn potenzielle Unterstützer fanden sich in den meisten arabischen Staaten.
Anfangs kaum Widerstand der Bevölkerung
Ab 1995 entwickelten sich die Taliban zur dominanten Fraktion innerhalb Afghanistans. Der Großteil der Bevölkerung begrüßte durch die neue Ordnung ihre wachsende Macht. Es waren junge Männer, die sich bewusst absetzten von den verrohten Warlords.
Nach der Einnahme Kabuls kontrollierten die Taliban bald die meisten Provinzen des Landes. Auf Widerstand stießen sie jedoch bei den schiitischen Hazara und der Nordallianz an der Grenze zu Tadschikistan. Dort hatten sich unter dem Kommandanten Ahmad Schah Massud – dem sogenannten "Löwen von Pandschir" – Einheiten der aus der Hauptstadt vertriebenen Mudschaheddin-Regierung versammelt. Es handelte sich überwiegend um Tadschiken, Usbeken und Turkmenen.
Mittelalterliche Zustände unter den Taliban
Bald nach der Machtübernahme begannen die neuen Herrscher immer rigider und grausamer zu werden. Es war nahezu alles verboten: Musik, Fernsehen, Internetnutzung und die meisten Sportarten; es durften keine Fotos von Menschen oder Tieren gezeigt werden. Sämtliche Mädchenschulen wurden geschlossen. Selbst das unter Kindern beliebte Drachensteigen war verboten.
Männer hatten einen Bart zu tragen, Frauen die alles verhüllende Burka. Ihnen war es nicht mehr gestattet, ohne ihren Mann das Haus zu verlassen; das Arbeiten wurde ihnen ganz verboten. Auch in Krankenhäusern wurden sie nicht mehr behandelt. Jeder, der sich gegen diese Gesetze aufbäumte, hat fürchterlich dafür bezahlen müssen.
Die Verhältnisse wurden immer schlechter: Dieben wurden Hände und Füße abgeschlagen, Ehebrecher wurden zu Tode gesteinigt. Doch nicht nur die Bevölkerung wurde systematisch gequält, es wurden auch große Kulturgüter wie beispielsweise das Museum in Kabul geplündert und die 1500 Jahre alten Buddha-Statuen von Bamiyan zerstört.
Die internationale Ächtung machte der afghanischen Bevölkerung zusehends zu schaffen. Der überlebenswichtige Handel blieb aus, die Wirtschaft kam zum Erliegen. Die afghanische Bevölkerung begann zu hungern, und die Taliban verweigerten Hilfsleistungen internationaler Organisationen.
Osama Bin Laden – ein Freund
1996 kam der international gesuchte Top-Terrorist Osama Bin Laden auf der Flucht aus dem Sudan nach Afghanistan und schloss schnell Freundschaft mit dem Taliban-Führer Mullah Omar. Der Multimillionär etablierte sich als Dauergast und finanzierte Ausbildungslager und Waffen für die Gotteskrieger. Seine Terrororganisation Al-Qaida operierte fortan vom Hindukusch aus.
Nach den Anschlägen des 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington forderten die USA die Auslieferung Bin Ladens, was Mullah Omar jedoch versagte. Darauf folgte die Militäroperation "Operation Enduring Freedom" der USA und der internationalen Staatengemeinschaft im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
Nur wenige Wochen darauf waren die Taliban – und damit die Schutzherren Bin Ladens – aus Kabul vertrieben. Doch die Anführer der Taliban und auch Osama Bin Laden tauchten in der schwer zugänglichen Bergwelt der afghanisch-pakistanischen Grenze unter.
Lange wusste niemand, wo genau sich Bin Laden versteckt hielt oder ob er überhaupt noch lebte. Der US-Geheimdienst CIA vermutete ihn schließlich in einem Anwesen etwa 40 Kilometer von der pakistanischen Hauptstadt Islamabad entfernt.
In der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2011 stürmte ein US-Spezialkommando das Anwesen. Dort töteten sie Bin Laden. Für die USA bedeutete sein Tod einen entscheidenden Schritt im Kampf gegen den Terrorismus – denn Bin Laden galt als Staatsfeind Nummer eins.
Eine neue Generation
Inzwischen haben sich die Taliban reorganisiert. Eine neue, jüngere Generation von selbst ernannten Gotteskriegern ist auf dem Vormarsch. Als Neo-Taliban knüpfen sie an alte Kontakte an und versuchen, sich ihr Land Stück für Stück zurückzuerobern und die internationalen Truppen in einen Guerillakrieg zu verstricken.
Dabei arbeiten sie mit Al-Qaida und anderen internationalen Terrorallianzen stärker zusammen als je zuvor. Vor allem durch Selbstmordattentate reißen sie regelmäßig Soldaten und auch Zivilisten mit in den Tod. Nach UN-Berichten sind die Taliban im Durchschnitt für etwa 75 Prozent der zivilen Opfer verantwortlich.
20 Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs kam es zum ersten Mal zu Gesprächen zwischen Regierung und Taliban. Im Abkommen von Doha zwischen den USA und den Taliban wurde ein Gefangenenaustausch vereinbart, der zwar noch keinen Frieden bedeutete, aber einen Schritt in diese Richtung. Erste inhaftierte Taliban wurden freigelassen. Im Mai 2020 verkündeten die Taliban zum ersten Mal seit 2001 eine Waffenruhe.
Die Rückkehr der Taliban
Mit dem Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan kehrten 20 Jahre nach ihrer Vertreibung die Taliban zurück und übernahmen die Macht. Direkt zu Beginn schlugen sie bei einer Pressekonferenz versöhnliche Töne an: Frauen sollten künftig arbeiten und sich politisch betätigen dürfen – im Rahmen der Gesetze der Scharia. Allen, die für die bisherige Regierung oder die ausländischen Kräfte gearbeitet hatten, wurde eine Amnestie versprochen, Racheakte werde es nicht geben. In der künftigen Regierung Afghanistans sollten verschiedene politische Kräfte vertreten sein.
Trotz dieser Ankündigungen brach bei vielen Betroffenen Panik aus. Sie glaubten den neuen Taliban nicht und versuchten abzutauchen oder das Land noch schnell zu verlassen.
Auch auf diplomatischer Ebene sind die neuen Taliban aktiv – und nutzen damit die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen vieler Länder: Traditionell werden sie von Pakistan unterstützt, das im Dauerkonflikt mit Indien und den Taliban im eigenen Land ein strategisches Interesse an Afghanistan hat.
Doch auch in Russland und China trafen sich schon vor der Machtübernahme Regierungsvertreter mit Taliban-Delegationen. Zum einen geht es um strategische Interessen, zum anderen darum, islamistische Gruppen im eigenen Land in Schach zu halten. China, das seit Jahren in die afghanische Rohstoff-Förderung investiert, unterhält schon länger Beziehungen zu den Taliban, die es nun braucht, um seine Investitionen zu sichern.
UNSERE QUELLEN
- Munzinger Länderarchiv: Eintrag "Afghanistan – gesamt" in Munzinger Online/Länder – Internationales Handbuch, Stand Juni 2020
- Bundesregierung: "Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven des deutschen Afghanistan-Engagements". 2018 (PDF)
- Auswärtiges Amt: "Afghanistan"
- Auswärtiges Amt: "Afghanistan: Reise- und Sicherheitswarnung"
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Afghanistan – Geschichte, Politik, Gesellschaft"
- Statista: "Afghanistan – Die zehn größten Städte im Jahr 2020"
- tagesschau.de: "Gespräche zwischen Taliban und Regierung"
- tagesschau.de: "Nachrichten zum Thema Afghanistan"
- tagesschau.de: "Nachrichten zum Thema Afghanistan-Abzug"
- ZDF.de: "Afghanistan – aktuelle Nachrichten zur Lage im Land"
- BBC.com: "Mapping the advance of the Taliban in Afghanistan"
- Bundesministerium der Verteidigung: "Bundeswehr unterstützt bei Evakuierung aus Afghanistan"
- ZEIT Online: "Afghanistan – Dann eben mit den Islamisten"
- Deutschlandfunk: "Taliban verkünden allgemeine Amnestie"