Naturnahes Leben
Die Besitzer nannten ihn "Berg der Wahrheit" – "Monte Verità". Im Jahr 1900 kauften hier in der Schweiz zwei Aussteiger für 150.000 Franken ein 1,5 Hektar großes Stück Land: Henri Oedenkoven, der Sohn eines belgischen Industriellen, und seine Geliebte, die Münchener Pianistin und Musiklehrerin Ida Hofmann.
Ein Zeitgenosse beschrieb den Ort als einen verwilderten ehemaligen Weinberg, auf dem nur ein kleines Steinhäuschen stand. Der Blick ging Richtung Italien zu zerklüfteten Bergen und dem Lago Maggiore.
Der einfache Ort im Tessin mit dem herrlichen Ausblick war so recht nach dem Geschmack der Münchener Künstlergruppe, die hier möglichst naturnah leben wollte. Die Bergbewohner verstanden sich als Teil der Lebensreformbewegung, die zur damaligen Zeit in einigen gesellschaftlichen Kreisen in Deutschland, Österreich und der Schweiz beliebt war.
Gemeinsam war ihnen der Traum eines naturnahen Lebens, abseits der Industrialisierung und des vom Materialismus und Kapitalismus geprägten Lebensstils in den großen Städten.
Gründung des Sanatoriums
Die Idee fand schnell viele Unterstützer, obwohl es von Anfang an auch unterschiedliche Vorstellungen darüber gab, wie die alternativen Lebenskonzepte in die Tat umzusetzen seien.
Henri Oedenkoven und Ida Hofmann hatten sich in einem Sanatorium des österreichischen Naturheilers Arnold Rikli in Veldes kennengelernt. Nach Riklis Vorbild wollten die beiden in Monte Verità auf der Basis von Naturheilverfahren ein Sanatorium errichten.
Auch der Aussteiger Karl Gräser war begeistert von der Idee, auf dem Monte Verità alternative Lebensformen zu etablieren. Gräser stammte aus Siebenbürgen (heute Rumänien) und war Offizier der österreichischen Armee gewesen, bis er unehrenhaft entlassen wurde. Zusammen mit seinem Bruder Gusto und anderen wollte Gräser eine Aussteigerkolonie gründen, weitgehend unabhängig leben und sich von der eigenen Ernte gesund ernähren.
Auf dem Monte Verità versammelte sich schon gleich zu Beginn eine Schar von Schriftstellern, Malern, Intellektuellen und Anarchisten, aber auch Gesundheits- und Ernährungsaposteln, die keineswegs einheitliche Lebensvorstellungen hatten.
Es sollte ein Ort der Freiheit in einer klassenlosen Gesellschaft werden, in der man sich von damals herrschenden gesellschaftlichen Zwängen befreien wollte.
Das kam auch in der Kleidung zum Ausdruck: Die Männer trugen Kniebundhosen und weit geschnittene Hemden. Hüte war unerwünscht, stattdessen wurden die schulterlang getragenen Haare durch ein Lederband zusammengehalten. Man lief entweder barfuß oder trug offene Sandalen. Statt Knöpfen an den langen Gewändern nähte man mit Dattelkerne an, heißt es in eingen Berichten.
Auf dem Monte Verità sollte auch Raum sein für feministisches Gedankengut und auch das sollte sich in der Kleidung zeigen. So trugen die Frauen weit geschnittene bodenlange Kleider und lehnten eng einschnürende Mieder kategorisch ab.
Die Befreiung der Frau war aber nicht nur eine Frage der Garderobe. Inspiriert von dem Psychoanalytiker Otto Gross lebten einige Bewohner auf dem Monte Verità nach dem Prinzip der freien Liebe in nichtehelichen Lebensgemeinschaften.
All das muss auf die Bewohner der nahegelegenen Stadt Ascona sehr seltsam gewirkt haben. Überliefert sind polizeiliche Aktenvermerke, aus denen hervorgeht, dass die Bergbewohner aufgefordert wurden, sich bei ihren Besuchen in der Stadt den dort herrschenden Regeln anzupassen. Größere Konflikte scheint es allerdings nicht gegeben zu haben.
Strenge Ernährungsregeln
Mit großem Enthusiasmus widmeten sich Henri Oedenkoven und Ida Hofmann der Idee einer Naturheilanstalt auf dem Monte Verità. Dabei sollten Rohkost und vegetarische Ernährung einen besonderen Stellenwert haben.
Von den Gästen des Sanatoriums wurde erwartet, dass sie einen strengen Ernährungsplan einhielten. Verboten waren zum Beispiel Fleisch und Milchprodukte, Kaffee, Tabak und Alkohol.
Doch die einseitige Ernährung verdarb manchen Kurgästen und auch ständigen Bergbewohnern die Freude am Essen. So berichtete Erich Mühsam, einer der Mitbegründer, dass er sich manchmal nachts heimlich vom Gelände geschlichen habe, um in einem Wirtshaus eine Fleischmahlzeit zu verzehren.
Auf dem felsigen Boden war der Gemüseanbau mühsam, schwer und nicht sehr erfolgreich. Die schwere Gartenarbeit war bei den Bewohnern nicht sehr beliebt und sorgte immer wieder für Streitigkeiten. Einige, die im Garten arbeiteten, wollten dabei der Natur ganz nahe sein und zogen mit Hacke und Spaten nackt in die Beete.
Gewohnt wurde in sogenannten Licht-Luft-Hütten. Dabei handelte es sich um einfach ausgestattete Holzhütten. Insgesamt war auf dem Gelände Platz für 36 Kurgäste, die für 30 Tage den dreißigtägigen Kuraufenthalt 100 Franken zahlen mussten und dabei diverse Naturheiltherapien erhielten.
Die Heilkräfte der Natur
Zum naturnahen Lebenskonzept auf dem Monte Verità gehörte auch die Freikörperkultur – also die gemeinsame Nacktheit auch im Alltag. Die Idee war, dass man sich ohne Kleidung der angeblich heilenden Kraft der Luft und des Sonnenlichts aussetzen sollte.
Dafür hatten die Begründer Oedenkoven und Hofmann in einem Teil des Geländes zwei "Licht-Luft-Parks" errichten lassen: einen nur für Männer und einen nur für Frauen. Hier konnten die Kurgäste "frei von allerlei lästiger Kleidung im Grase ruhen, laufen, turnen, spielen, Garten- und andere Arbeiten verrichten". So steht es in einem Prospekt aus dem Jahr 1904.
Die Freikörperkultur gehörte auch zum Konzept des Münchener Choreographen Rudolf von Labahn, der 1913 auf den Monte Verità kam und dort eine Tanzschule gründete. Zu den Merkmalen des damals entwickelten Ausdruckstanzes gehörte auch, dass sich die Tänzerinnen nackt bewegen sollten.
Das freizügige Treiben auf dem Monte Verità sprach sich schnell herum. Als in unmittelbarer Nachbarschaft ein Hotel gebaut wurde, konnten die Hotelgäste aus einem Turmzimmer die Nackten auf dem Monte Verità betrachten. Später nutzte Henri Oedenkoven die Gelegenheit, von den Zaungästen Eintrittsgelder zu verlangen.
Neben der Licht-Luft-Therapie und der vegetarischen Ernährung wurden im Sanatorium weitere Naturheilkunde-Behandlungsverfahren angeboten. Dazu zählten neben den Wasserbädern nach Kneipp auch das Lehmbad und das Erdschlafen nach den Empfehlungen des als "Lehmpastor" verehrten Emanuel Felke.
Das Ende eines Traums
Doch am Ende reichte das Geld trotzdem nicht aus. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges verschärften sich die wirtschaftlichen Probleme der Gruppe. Die Zahl der Kurgäste sank.
Im Januar 1920 gab Henri Oedenkoven auf. Auch das Verhältnis zu Ida Hofmann war zerbrochen. Oedenkoven hatte bereits 1913 die Engländerin Isabelle Adderly kennengelernt, die jedoch eine strikte Gegnerin der freien Liebe war. Die beiden heirateten schließlich und wanderten 1920 zusammen mit ihren drei Kindern nach Brasilien aus.
Fünf Jahre später erwarb der deutsch-schweizerische Bankier Eduard Freiherr von der Heydt den Monte Verità und ließ dort 1927 ein Hotel errichten. Und wieder ist der Berg der Wahrheit im Gespräch. Von der Heydt beauftragt den Architekten Emil Fahrenkamp mit dem Hotelneubau im Bauhausstil.
Nach seinem Tod ging der Monte Verità in den Besitz des Kantons Tessin über. Heute betreibt dort die berühmte Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich ein Tagungsgebäude. Vom Hotel Monte Verità kann man nun wieder den einzigartigen Blick genießen, den die Mitglieder der einstigen Aussteigerkolonie dort vor mehr als 120 Jahren hatten.
(Erstveröffentlichung 2011. Letzte Aktualisierung 27.05.2020)