Ein Forscher spielt Gott
Frankenstein gilt heute als Name des Monsters, aber im Roman ist das lediglich der Name seines Schöpfers: Victor Frankenstein. Dieser studiert Medizin in ganz Europa und eignet sich so viel medizinisches Wissen an, dass es ihm bald nicht mehr reicht, nur Kranken zu helfen.
Frankenstein ist besessen davon, selbst zum Schöpfer zu werden. Er erschafft aus Leichenteilen einen künstlichen Menschen, den er mit Hilfe von Elektrizität zum Leben erweckt. Leider ist sein Geschöpf ein übergroßes, hässliches Monster, das er aufgrund seines Aussehens verstößt.
Das Monster wird zum Menschen
Die neu erschaffene Kreatur ist bald mehr oder weniger im Vollbesitz seiner Kräfte und Fähigkeiten und eignet sich das Wissen eines gebildeten Europäers des 18. Jahrhunderts an. Der ursprünglich "Wilde" bildet sogar ein Gewissen und eine Seele aus. Das künstliche Wesen wird ein Mensch. Doch bis auf wenige Ausnahmen reagiert seine Umwelt mit Angst und Schrecken auf sein Äußeres.
Das Monster bringt daraufhin alle um, die sich ihm gegenüber aggressiv verhalten. Und es entwickelt eine Hassliebe zu seinem Schöpfer Frankenstein, den es für sein unglückliches Schicksal verantwortlich macht. Aus Hass tötet es Frankensteins Familie, verschont aber aus Liebe Frankenstein selbst.
Dieser verfolgt sein Geschöpf über den halben Erdball, um es wieder zu töten und seine Tat ungeschehen zu machen. Das Ende der beiden im ewigen Eis ist aber eher der Wille des Monsters als die Konsequenz aus Frankensteins Handeln. So provoziert das Monster Frankenstein noch mit dem Satz: "Du bist mein Schöpfer, doch ich bin dein Herr!"
Prometheus und Golem als Vorbilder
Frankenstein trägt eines seiner Vorbilder bereits im Untertitel des Romans: der moderne Prometheus. Dieser mythische Titan aus der griechischen Sagenwelt raubte den Göttern des Olymp das Feuer und brachte es den Menschen. Dafür wurde er zu ewigen Qualen verurteilt. An einen Felsen gekettet, fraß ihm jeden Tag ein Adler seine stets nachwachsende Leber aus dem Körper.
Man kann in Prometheus aber auch den schöpferischen Geist und Rebell sehen, wie das bereits die Römer und die englischen Dichter Bacon und Shaftesbury taten, die zur gleichen Zeit wie Mary Shelley in England lebten. Denn Prometheus schuf als Bildhauer auch die Menschen, denen die Göttin Athene dann Leben einhauchte.
Außerdem erinnert das Monster an die uralte jüdische Sage vom Golem – der ist eine Art veräußerlichter, vergröberter Doppelgänger des eigenen Ichs, der alle bösen Kräfte dieses Ichs symbolisiert. Auch dieser künstliche Lehmmensch gehorcht bald nicht mehr seinem Schöpfer und entwickelt ein Eigenleben. Der Deutsche Gustav Meyrink brachte die Golem-Sage 1915 in Romanform.
Zentrale philosophische Fragen
Das Verstörende an Frankenstein liegt in den Fragen, die sich aus der Existenz des Monsters ergeben: Was bedeutet menschliches Leben, wenn dieses Wesen ebenfalls lebt? Was bedeutet Freiheit, wenn ein künstliches Geschöpf ebenfalls wie ein Mensch handelt und doch an den unsichtbaren Fäden seiner Konstruktion hängt? Was ist das Ich, wenn Frankenstein in dem Monster seinen Doppelgänger erkennt?
Solche philosophischen Fragen sind den meisten neueren Versionen des Stoffes fern. Besonders die Filmindustrie setzt in unzähligen Verfilmungen vor allem auf die Schockeffekte der Vorlage. Das Monster wird zum Fest für Maskenbildner.
Und je populärer die Figur wird, desto mehr übernimmt das Monster den Namen seines Schöpfers. Die ursprüngliche Geschichte wird dabei bedenkenlos den Erfordernissen der Unterhaltungsindustrie angepasst.
(Erstveröffentlichung: 2003. Letzte Aktualisierung: 13.07.2019)