Flucht aus dem Alltag
Viele Inder sind enthusiastische Kinogänger. Rund zehn Millionen Menschen strömen täglich in die Kinos, obwohl Preise häufig dem Tageslohn eines normalen Arbeiters entsprechen. Für dieses Geld erwarten die Menschen vom Film vor allem eins: Er soll sie möglichst lange unterhalten und in eine schönere Welt entführen.
Dass manche Kinos dabei noch klimatisiert sind und man sich vorzüglich von der sengenden Hitze in vielen Teilen Indiens erholen kann, ist sicher für viele ein angenehmer Nebeneffekt.
Das dreistündige Rundum-Sorglos-Paket
Seit Generationen haben die Filmemacher die Bedürfnisse des indischen Publikums durchschaut und versucht, sie zu befriedigen. Dabei ist eine Filmkultur entstanden, die sich stark von der westlichen unterscheidet.
Das indische Publikum hat eine ausgeprägte Erwartungshaltung an den jeweiligen Film: Es will emotionale Szenen, Aktion, Drama, Liebesszenen und Tragödie und vieles davon zusätzlich noch in Tanzszenen umgesetzt sehen.
Diese sollen mindestens 60 Minuten des Gesamtfilms ausmachen, der übrigens eine Länge von drei Stunden nicht unterschreiten sollte. Die künstlerischen Parameter, in denen indische Regisseure arbeiten, sind eng gesetzt.
Getanzte Langeweile?
Auf westliche Kinobesucher wirken indische Filme zuerst befremdlich. Sie erleben die Filme oft als ein zusammenhangloses Potpourri aus Musik und Bildern. Besonders auffällig ist die Länge der Filme. Aus den mindestens drei Stunden langen Epen werden bei den meisten ungeschulten Betrachtern gefühlte sechs Stunden.
Der Grund hierfür: Die Dramaturgie der Filme erschließt sich dem westlichen Betrachter nicht. Er sieht den Film mit einer durch amerikanische Mainstream-Filme geprägten Erwartungshaltung, die fast zwangsläufig enttäuscht wird.
Der Weg ist das Ziel
Westliche Filme arbeiten nach einer klar strukturierten Dramaturgie: Die Handlung schreitet kontinuierlich voran, spitzt sich zu, die einzelnen Handlungsebenen bedingen sich in ihrem Ablauf oder ergeben sich auseinander. Besonders wichtig für den westlichen Film: die Stringenz der Handlung. Der Zuschauer soll sich ständig fragen: "Was passiert als Nächstes? Was könnte sich aus dem gerade Gesehenen ergeben?"
Die tendenziell eher schicksalsgläubigen Inder schauen ihre Filme viel weniger zielorientiert. Im indischen Kino ist der Weg das Ziel. Hier kann die Spannungsdramaturgie kurz aussetzen, wenn der Held und die Heldin des Films singen und tanzen. Die Tanzeinlagen sollen nicht zwingend die Handlung des Films vorantreiben, sondern stehen als Attraktionswert für sich.
Wenn zum Beispiel ein indischer Produzent befindet, dass in seinem Film noch eine Actionszene fehlt, so wird sie in einer Nebenhandlung untergebracht, die nicht zwangsläufig die Haupthandlung voranbringt oder gar mit ihr zu tun haben muss.
Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen der indischen und der westlichen Kinokultur bei den Tanzszenen: Westliche Filmfreaks betreiben voller Stolz ungezählte Internetseiten mit Continuity-Fehlern, die sie in Filmen gefunden haben.
Von einem Continuity-Fehler spricht man beispielsweise, wenn ein Schauspieler mit einer blauen Unterhose das Wohnzimmer verlässt und in der nächsten Szene mit einer roten ins Bad tritt. Das Aufspüren solcher Unaufmerksamkeiten der Filmemacher ist zu einer Art Volkssport für viele Filmfans geworden.
Betrachtet man vor diesem Hintergrund indische Tanzszenen, so fällt auf, dass die indischen Filmemacher gar keinen Wert auf eine stringente Bildlogik legen. Tanzt das Paar in der ersten Szene in grünen Gewändern auf der Bergspitze des Mount Everest, ist es einige Sekunden später in blauen Kleidern beim Tanz um einen Baum im Schwarzwald zu sehen.
Die indischen Regisseure wissen: Dem indischen Zuschauer geht es nicht um die Continuity, sondern er will sich verzaubern lassen. Viele exklusive Drehorte und schöne Verkleidungen sind ihm wichtiger als die Bildlogik in der Szenenabfolge.
Kommerzielles Kino
Trotz aller Unterschiede haben das amerikanische und das indische Kino eines gemeinsam: Jedes will auf seine Art möglichst viele potenzielle Kinogänger ansprechen, um möglichst viel Geld zu verdienen. Und das können die indischen Produzenten ebenso gut wie ihre amerikanischen Kollegen. Indische Filme sind in vielen Teilen der Welt sehr erfolgreich, beispielsweise in Asien, Afrika oder Südamerika.
Der inländische Markt ist erst seit dem Beginn der 1990er Jahre voll erschlossen. Seitdem werden die groß angelegten Mainstream-Filme in viele der 18 indischen Amtssprachen synchronisiert. Bis dahin wurden die Filme nur in der Hindi-Fassung gestartet und hatten lediglich ein potenzielles Publikum von rund 400 Millionen Hindi sprechenden Indern.
Auch die Filmmusik spielt bei der Verwertung der Filme eine große Rolle. Bei den großen Filmen wird die Filmmusik schon Monate vorher auf den Markt gebracht, um für den Film zu werben. Sobald der Film startet, läuft die Verwertungskette in umgekehrter Richtung: Jetzt kaufen die Menschen die Filmmusik, weil sie den Film gesehen haben.
Schafft es in Deutschland oder den USA gerade mal der Titelsong eines Blockbusters auf Platz eins der deutschen Charts, wird der indische Musikmarkt von Soundtracks dominiert. Die indischen Top Ten bestehen fast ausschließlich aus Filmmusik.
Autorenkino
Kolkata (Kalkutta) gilt als Sitz des indischen Autorenkinos. Das Autorenkino unterscheidet sich in erster Linie dadurch vom indischen Mainstream-Film, dass es auf epische Tanzdarbietungen verzichtet und damit auch auf ein großes Publikum und auf kommerziellen Erfolg. Die Handlungen in Autorenfilmen bleiben, wie im Autorenkino weltweit, näher am täglichen Leben und an den Problemen der Inder.
Nicht selten kommt es vor, dass die strenge indische Zensur einen regierungskritischen Film verbietet. Den Siegeszug des indischen Autorenkinos kann dies nicht stoppen: Galten Filme ohne Tanz und Musik in Indien vor 20 Jahren als unvermarktbar, steigt heute die Zahl der Autorenfilme, die auch auf Festivals in westlichen Ländern sehr viel Anerkennung finden.
(Erstveröffentlichung: 2005. Letzte Aktualisierung: 18.03.2020)