Hände eines Gerichtsvollziehers, der einen Auktionshammer betätigt.

Gericht

Justizirrtümer – wenn Gerichte falsch liegen

Gerichte sprechen Recht und entscheiden damit oft über das Schicksal von Angeklagten. Trotzdem passieren immer wieder Fehler, die zu Fehlurteilen führen. Drei spektakuläre Fälle.

Von Ingo Neumayer

Horst Arnold und die angebliche Vergewaltigung

Der Lehrer Horst Arnold wird 2002 vom Landgericht Darmstadt zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das Gericht ist sich sicher: Horst hat seine Kollegin Heidi K. während einer Pause im Schulgebäude vergewaltigt. Beweise gibt es keine, lediglich die Aussage von Heidi K.; zudem dürfte Arnolds Alkoholkrankheit gegen ihn gesprochen haben.

Der Prozess dauert nur fünf Tage, wichtige Zeugen wie der ermittelnde Kommissar werden nicht geladen. Arnold beteuert stets seine Unschuld, doch eine Revision wird vom Bundesgerichtshof als "offensichtlich unbegründet" abgelehnt.

Da Arnold weiter die Tat bestreitet und sich weigert, im Gefängnis an einer Therapie für Sexualstraftäter teilzunehmen, muss er die volle Haftzeit verbüßen.

Vor Gericht rehabilitiert, das Leben ruiniert

Nach seiner Entlassung nimmt sich ein Anwalt den Fall noch einmal vor. Ihm waren verschiedene Ungereimtheiten aufgefallen. So hatte Heidi K. offenbar mehrmals in anderen Zusammenhängen gelogen und von Anschlägen auf sie und ihren Lebensgefährten berichtet, die nie stattgefunden haben.

Der Anwalt erreicht ein Wiederaufnahmeverfahren, das 2010 mit einem Freispruch für Arnold wegen "erwiesener Unschuld" endet.

Die Aussage Heidi K.s, sie sei von Arnold vergewaltigt worden, dann über eine Feuertreppe geflüchtet, habe sich übergeben, wieder hergerichtet und sei darauf in ein anderes Schulgebäude gegangen, wo sie pünktlich und ohne Auffälligkeiten eine Schulstunde hielt – und das alles innerhalb von 15 Minuten – wird dabei als "an sich kaum glaubhaft" bezeichnet.

Als Folge kommt Heidi K. vor Gericht. 2013 wird sie wegen Freiheitsberaubung zu fünf Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Das Gericht attestiert ihr eine schwere Persönlichkeitsstörung.

Horst Arnold wird zwar vom Gericht rehabilitiert, sein Leben ist durch die Falschaussage aber ruiniert. Er lebt von Hartz IV, da er nicht wieder in den Schuldienst aufgenommen wird. In Interviews berichtet er von dem immensen psychischen Druck, dem er in seiner Haftzeit ausgesetzt war.

Einzig die Tatsache, dass man es als Schuldeingeständnis hätte deuten können, habe ihn am Suizid gehindert. Horst Arnold stirbt 2012 an einem Herzinfarkt. Seine Haftentschädigung – 25 Euro pro Tag – hat er nie erhalten.

Angeklagte Heidi K. beim Prozess 2013 in Darmstadt

Heidi K.s Falschaussage brachte sie am Ende selbst ins Gefängnis

Peter Heidegger und der Taxi-Raubmord

Im Juli 1993 wird die Taxifahrerin Claudia D. im österreichischen Wals in ihrem Wagen erschossen. In Verdacht gerät der Soldat Peter Heidegger, der Zeugen zufolge in der Nähe des Tatortes gesehen wurde. Heidegger gesteht nach stundenlangen Verhören die Tat, widerruft sein Geständnis aber danach. Dennoch wird er im Juni 1994 zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Kurz nach dem Urteil meldet sich der 16-jährige Daniel N. bei der Polizei. Er sagt aus, zusammen mit seinem Freund Tomi S. den Raubmord begangen zu haben. Da N. aber als Drogenkonsument bekannt ist, schenken ihm die Behörden keinen Glauben. Seine Aussage wird nicht überprüft.

950.000 Euro Haftentschädigung

2001 gelingt es Heideggers Anwälten, den Fall neu aufzurollen. Daniel N. gesteht erneut die Tat und offenbart dabei Täterwissen. Tomi S. streitet die Tat ab.

Das Gericht entschließt sich, Heidegger auf Kaution zu entlassen und ein drittes Verfahren anzusetzen. In diesem wird N.s Anwesenheit am Tatort mittels DNA-Spuren bewiesen. Heidegger wird freigesprochen.

In einem weiteren Prozess werden N. und S. zu Gefängnisstrafen verurteilt. Zudem werden Ermittlungen gegen sechs Kriminalbeamte geführt. Sie sollen Beweisstücke zurückgehalten, die Aussagen einer Entlastungszeugin nicht protokolliert und eine falsche Tatwaffe präsentiert haben. Die Untersuchung wird später wegen Verjährung eingestellt.

Schließlich kommen auch die beiden Zeugen wegen Verleumdung und Falschaussage vor Gericht, die Heidegger am Tatort gesehen haben wollen. Sie werden freigesprochen. Heidegger bekommt eine Haftentschädigung von 950.000 Euro.

Stempel mit der Aufschrift 'Justizirrtum'

Spektakulärer Justizirrtum in Österreich

Harry Wörz: Allein gegen ein ganzes Revier

Im April 1997 lässt die Polizistin Andrea Z. offenbar eine ihr bekannte Person nachts in ihre Wohnung in Birkenfeld bei Pforzheim. Nachbarn hören Streit, wenig später wird sie von ihrem im Haus lebenden Vater gefunden: stranguliert und mit so schweren Hirnschädigungen, dass sie nie wieder sprechen kann. Zum Täter kann sie keine Angaben machen.

Die Ermittler konzentrieren sich auf Z.s Exmann Harry, einen Installateur, der seit einem Jahr getrennt von ihr lebt. Ob Z.s damaliger Geliebter Thomas H., der mit einer anderen Frau verheiratet ist, etwas mit dem Fall zu tun hat, wird nicht weiter untersucht. Auch ihr Vater rückt schnell aus dem Fokus.

Das Opfer, ihr Vater und ihr Geliebter sind alle drei bei der Polizei. Sie gehören zu demselben Revier, das auch die Ermittlungen führt – und das offenbar sehr nachlässig ist. So werden sowohl der Geliebte als auch der Vater nicht daran gehindert, noch vor der Spurensicherung den Tatort zu betreten.

Der Exmann Harry Wörz kommt vor Gericht – als mögliches Motiv gilt eine Lebensversicherung des Opfers. Er wird in einem vier Tage dauernden Prozess im Januar 1998 vom Landgericht Karlsruhe zu elf Jahren Haft verurteilt.

Laut Wörz klatschen sich die im Gerichtssaal anwesenden Polizisten vom Revier des Opfers nach seiner Verurteilung ab.

Elf Prozesse in dreizehn Jahren

Ein Jahr nach seiner Verurteilung beginnt gegen Wörz ein Zivilprozess wegen Schadenersatz. Nun fallen diverse Ungereimtheiten auf: Für die Lebensversicherung des Opfers ist Wörz offenbar gar nicht bezugsberechtigt. Angebliche Asservate – eine Zigarettenschachtel, ein Handschuh, Haarproben – die belegen sollen, dass Wörz am Tatort war, sind auf einmal nicht mehr auffindbar.

Im Gegensatz zum Strafgericht des Landgerichts Karlsruhe hat das dortige Zivilgericht erhebliche Zweifel an Wörz' Schuld und spricht ihn frei von der Schadensersatzforderung.

Wörz stellt nun einen Wiederaufnahmeantrag des Strafverfahrens, der abgelehnt wird. Er legt Beschwerde ein, der Fall wird neu geprüft, der Haftbefehl wird 2001 aufgehoben. Es folgen Aufhebungen, Wiederaufnahmen, Revisionen. Insgesamt elf Prozesse werden geführt.

Justizopfer Harry Wörz 2001 in seiner Gefängniszelle

Harry Wörz saß unschuldig hinter Gittern

2009 spricht das Landgericht Mannheim Wörz erneut frei und bemängelt gravierende Ermittlungsfehler von Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Revision gegen dieses Urteil wird 2010 vom Bundesgerichtshof verworfen, Wörz ist damit rechtskräftig freigesprochen.

Auch Wörz leidet an den Spätfolgen der viereinhalbjährigen Haft. Er ist arbeitsunfähig, hat eine posttraumatische Belastungsstörung und das Sorgerecht für seinen Sohn verloren.

Seine Unschuld zu beweisen, kostete ihn nach eigenen Angaben 70.000 Euro. Für die unrechtmäßige Haft erhält er nur 42.000 Euro Entschädigung – 25 Euro pro Tag. Noch Jahre nach seinem Freispruch streitet er mit dem Land Baden-Württemberg um Entschädigungen. 2016 einigen sich beide Beteiligten auf eine Entschädigungssumme von 450.000 Euro.

Wer Andrea Z. angegriffen hat, wird hingegen nicht geklärt. Die Staatsanwaltschaft stellt 2013 die Ermittlungen ein.

(Erstveröffentlichung 2016. Letzte Aktualisierung 31.03.2020)

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Quelle: WDR

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