Historische Aufnahme auf der ein älterer Herr an einem Pult steht, hinter ihm an der Wand eine Tafel mit der Aufschrift 'Eugenics Is The Self Direction Of Human Evolution.'

Nationalsozialistische Rassenlehre

Die Geschichte der Eugenik-Verbrechen

Die Eugenik ist die Lehre der vermeintlich guten Erbanlagen. Bis in die 2000er-Jahre wurden auf Grundlage dieser Ideologie Menschen zwangssterilisiert. Ihre Wurzeln reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Von Beate Krol

Die Wurzeln der Eugenik

Die Eugenik beruft sich auf die Evolutionslehre, die der britische Naturforscher Charles Darwin Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichte. Darwin ging davon aus, dass die damals existierenden Tier- und Pflanzenarten das Ergebnis eines Auswahlprozesses der Natur waren. Die fittesten Exemplare hatten sich durchgesetzt, während die anderen verschwunden waren.

Das Schwarzweiß-Bild zeigt den britischen Naturwissenschaftler Charles Darwin als alten Mann mit langem weißem Bart.

Die Evolutionslehre von Charles Darwin als vermeintliches Vorbild

Die Eugeniker sahen auch die menschlichen Gesellschaften einem solchen evolutionären Konkurrenzkampf unterworfen. In ihren Augen überlebten diejenigen Gesellschaften, deren biologische Substanz am besten war.

Dabei kristallisierten sich mit der Zeit zwei Richtungen heraus: Die Vertreter der positiven Eugenik wollten die Fortpflanzung der Menschen mit vermeintlich guten Erbanlagen fördern. Die Vertreter der negativen Eugenik wollten die Fortpflanzung von Menschen mit vermeintlich schlechten Erbanlagen verhindern.

Die Eugenik entsteht in den modernen Staaten

Die Eugenik ist ein Kind ihrer Zeit: Sie entstand in den modernen Industriestaaten in Europa und im angelsächsischen Raum. Nach Jahrzehnten voller Fortschrittsoptimismus traten dort Anfang des 20. Jahrhunderts die Schattenseiten von Industrialisierung und Kapitalismus deutlich zutage: Millionen Menschen lebten im Elend, Krankheiten und Kriminalität grassierten und die Sterblichkeit war hoch.

Nachkoloriertes Foto eines engen, schmalen Raumes; die Mutter der Familie steht im Hintergrund vor einem Herd mit Küchenutensilien, der Vater sitzt eingezwängt zwischen Tisch und Bett; vor der Mutter drei kleine Kinder.

Die "minderwertige biologische Substanz" wurde zur Ursache des Elends erklärt

Für diese Misere lieferte die Eugenik den gesellschaftlichen Eliten eine plausible und zugleich bequeme Erklärung. Nicht die wirtschaftlichen und sozialen Zustände waren schuld, sondern die vermeintlich minderwertige biologische Substanz der in Armut lebenden Menschen.

Gleichzeitig wertete die Eugenik die gesellschaftliche Elite auf, denn deren Erbanlagen galten laut Eugenik als höherwertig.

Die Eugenik setzt sich durch

Zudem schienen die eugenischen Maßnahmen den vermeintlich bevorstehenden Niedergang der modernen Industriegesellschaften aufzuhalten. Die ersten Eugenik-Opfer gab es bereits Ende des 19. Jahrhunderts im US-Bundesstaat Connecticut: Dort war es Menschen mit vermeintlich minderwertigen Erbanlagen verboten zu heiraten.

Nur wenige Jahre später gab es in zahlreichen US-Bundesstaaten Programme zur Zwangssterilisation. Auch in Kanada, Skandinavien und der Schweiz wurden Anfang des 20. Jahrhunderts Zwangssterilisationen mit eugenischen Argumenten eingeführt und gerechtfertigt.

In Deutschland erhielt die Eugenik den entscheidenden Schub durch den verlorenen Ersten Weltkrieg. So argumentierten die Vertreter der positiven Eugenik, dass in den Schlachten überproportional viele vermeintlich genetisch höherwertige Menschen gefallen seien, weshalb es staatliche Maßnahmen geben müsse, damit sich die verbliebenen genetisch höherwertigen Menschen stärker vermehrten.

schwarz-weiß Foto gefallener Soldaten und deren Pferde auf einem Feld nach einer Schlacht

Die Gefallenen des Ersten Weltkriegs wurden zum Argument der Eugeniker

Die Vertreter der negativen Eugenik plädierten nach dem Ersten Weltkrieg für Zwangssterilisierungen nach dem Vorbild der USA. Ihre Begründung lautete, dass Deutschland es sich aufgrund der territorialen und wirtschaftlichen Einbußen nicht leisten könne, dass sich auch vermeintlich biologisch minderwertige Menschen weiter fortpflanzten.

Die Eugenik wird zur Wissenschaft

Mit der wachsenden Popularität der Eugenik in der Weimarer Republik ging auch ihre Verwissenschaftlichung einher. Zirkulierte das Gedankengut der Eugeniker anfangs in kleinen, privaten Eugenik-Gesellschaften, bekannten sich nach dem Ersten Weltkrieg auch Professoren zur Eugenik, wie der Psychiater Alfred Hoche und der Strafrechtler Karl Binding.

Zudem richteten erste Universitäten Eugenik-Lehrstühle ein, an denen Wissenschaftler mit statistischen und anthropologischen Methoden eugenische Kriterien, Programme und Maßnahmen erarbeiteten.

Mit der Verwissenschaftlichung wuchs der Eugenik ein Wahrheitsanspruch zu. Die Eugeniker wurden zunehmend zu Politikberatern. Berührungsängste gab es bei den Parteien kaum. Alle politischen Strömungen ließen sich von der Eugenik beeinflussen und hielten sie für diskutier- und realisierbar.

Auch die Kirchen griffen das Gedankengut der Eugenik auf und akzeptierten sogar die Zwangsmaßnahmen der negativen Eugenik.

Eugenik und Euthanasie

Die Eugeniker verstanden ihre Arbeit als Dienst am Volk. Hier deutet sich bereits die Nähe zum völkischen Gedankengut und der Euthanasie an. Tatsächlich haben viele deutsche Eugeniker die Euthanasie befürwortet.

Auch das im Juli 1933 in Kraft getretene "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", auf dessen Grundlage mindestens 360.000 Menschen zwangssterilisiert wurden, lässt sich durchaus als Ausfluss der Eugenik bezeichnen.

Schaubild auf dem mehrfach ein Sportler und ein Kranker abgebildet sind, die Aufschrift lautet 'Qualitativer Bevölkerungsabstieg bei zu schwacher Fortpflanzung der Höherwertigen'.

Stimmungsmache gegen den "erbkranken Nachwuchs"

Gegen eine zwangsläufige Entwicklung von der Eugenik zur Euthanasie spricht, dass es in allen anderen Ländern mit Eugenik-Programmen keine Euthanasie gab. Auch war das Ausmaß der Zwangssterilisierungen deutlich geringer. Nichtsdestotrotz bleiben sie Verbrechen.

Eugenik-Opfer haben keine Stimme

Obwohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 festgeschrieben ist, dass heiratsfähige Menschen ein Recht haben, eine Familie zu gründen, wurde die Eugenik in vielen Staaten auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter praktiziert.

In der Schweiz gab es bis in die 1980er-Jahre Zwangssterilisationen, in Finnland bis 1979. Kanada verbot Zwangssterilisationen 1972, in Schweden bestand das Sterilisationsgesetz bis 1975. Die USA nahmen 2002 die letzten Zwangssterilisierungen vor.

In der Europäischen Union (EU) sind Zwangssterilisationen und eugenische Maßnahmen seit 2009 verboten. Dennoch geht die Entschädigung der Eugenik-Opfer nur schleppend voran – sofern sie überhaupt ein Thema ist.

In Deutschland sind die Eugenik-Opfer mit minimalen Beträgen entschädigt worden. Weil eugenische Verbrechen nicht als spezifisches NS-Unrecht gelten, sind sie nicht vom Bundesentschädigungsgesetz umfasst.

UNSERE QUELLEN

  • Interview mit Thomas Stöckle, Historiker und Leiter der Gedenkstätte Grafeneck

Quelle: SWR | Stand: 22.03.2022, 10:00 Uhr

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