Philipp Scheidemann

Menschenrechte

Verfassung in Deutschland

Verfassungen sind das Fundament eines Staates. Sie regeln das Zusammenleben eines Volkes und garantieren die Rechte des Einzelnen. In den Grenzen des heutigen Deutschland gab es schon viele Verfassungen, aber keine hat die Freiheit so garantiert wie das Grundgesetz.

Von Sabine Kaufmann

Die Reichsverfassung

Seit dem Mittelalter bis 1806 war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation die verbindliche, allen Mitgliedern übergeordnete Rechtsinstanz. Grundlage dieses großen Völkerbündnisses war die Reichsverfassung. Zu Beginn umfasste das Reich die Gebiete Italien, Deutschland, Österreich, Niederlande, Schweiz, Böhmen, Schlesien, Pommern und Burgund.

In der Goldenen Bulle von 1356 wurde festgelegt, dass das Reich eine Wahlmonarchie ist. Das Reichsoberhaupt, der Kaiser, wurde von den sieben Kurfürsten gewählt. Dazu zählten die drei geistlichen Kurfürsten, die Bischöfe von Köln, Mainz und Trier, sowie die vier weltlichen, der König von Böhmen, der Markgraf von Brandenburg, der Rheinische Pfalzgraf und der Herzog von Sachsen.

Tatsächlich stammten die Kaiser seit 1438 aus dem Hause Habsburg, abgesehen von dem Intermezzo des Kaisers Karl VII., der ein Sprössling des bayerischen Königshauses Wittelsbach war.

Das Reich war ein streng föderales Gebilde, das aus vielen unabhängigen und selbstbestimmten Kleinstaaten wie Reichstädten, geistlichen und weltlichen Territorialfürstentümern bestand.

Die Reichsstände, also Fürsten, Geistliche und unabhängige Reichsstädte, hatten ein Mitspracherecht auf den Reichstagen, auf denen der Kaiser Hof hielt. Der Kaiser stützte sich im Wesentlichen auf seine Hausmacht, stand aber den anderen Fürsten als oberster Gerichts- und Lehnsherr vor.

An der Schwelle zur Neuzeit entwickelte sich im Kernbereich des Heiligen Römischen Reiches ein deutsches Bewusstsein heraus. Eine Errungenschaft des Wormser Reichstages 1495 war der "Ewige Landfriede", der Selbstjustiz wie eigenmächtige Pfändungen und Fehden untersagte. Streitigkeiten mussten auf dem Rechtsweg beigelegt werden, wozu das Reichskammergericht eingerichtet wurde.

Szenenfoto aus dem deutschen Kinofilm "Luther" (2003): Joseph Fiennes als Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms

Auch Luther (hier gespielt von Joseph Fiennes) erschien vor dem Wormser Reichstag

Außerdem wurde seit Worms eine Reichssteuer, der "gemeine Pfennig", von allen Untertanen erhoben. Mit dieser Steuer sollten das Reichskammergericht unterhalten und der Frieden nach innen und außen geschützt werden.

Im Kriegsfall stellte der Kaiser mithilfe der Landesfürsten eine Reichsarmee zusammen, die aus Landeskindern und Söldnern bestand. Die Ausbreitung der Reformation führte dazu, dass die protestantisch gewordenen Fürsten im 17. Jahrhundert mehr auf Distanz zum katholischen Kaiser gingen.

Im Zeitalter des Absolutismus beanspruchten die einzelnen Fürsten und Territorialherren eine größere Machtfülle für sich. Das Reich und seine Verfassung verloren an Bedeutung, bis es 1806 endgültig zu Grunde ging.

Erste deutsche Verfassungen

Napoleon knüpfte an das alte untergegangene Reich an und gründete am 12. Juli 1806 den Rheinbund. Das Verfassungsdokument, die Rheinbundakte, war ein Vertrag zwischen dem französischen Kaiser und zuerst sechzehn Territorialstaaten, deren Gebiete rechtsrheinisch, aber nicht unmittelbar am Rhein lagen.

Im Bundestag zu Frankfurt am Main tagten die Mitglieder des Bundes. Die Position Napoleons war übermächtig, wenn auch rein formal alle Mitglieder gleichberechtigt sein sollten.

Die Herrscherhäuser, wie die von Baden und Württemberg, konnten an der Seite Napoleons ihr Territorium stark vergrößern. Der württembergische Herrscher nahm von Napoleons Gnaden sogar die Königswürde entgegen.

Bis 1808 schlossen sich weitere 23 Staaten dem Rheinbund an, darunter der Kurfürst Friedrich von Sachsen, die Herzöge von Mecklenburg-Strelitz und die Herzöge von Sachsen-Weimar-Eisenach.

Napoleon Bonaparte.

Napoleon Bonaparte

Nach dem Ende der napoleonischen Kriege und dem Sturz Napoleons setzte in den deutschen Kleinstaaten eine rege Verfassungsdiskussion ein, in deren Folge Baden, Bayern, Sachsen-Weimar, Hessen-Darmstadt und Württemberg zwischen 1818 und 1820 eine Landesverfassung erhielten.

Diese frühen Länderverfassungen waren in keiner Weise demokratisch. Gesetzgeber war allein der Monarch, der auch Oberbefehlshaber des Heeres war.

Die Grundrechte waren unvollständig und die Gleichheit vor dem Gesetz nur ungenügend ausformuliert. Sie bestand im Wesentlichen in der Steuergleichheit und in der Dienstpflicht, die für alle gleich war. Allein die Privatsphäre und die Person genossen einen verfassungsrechtlichen Schutz.

Gerade in Südwestdeutschland bahnten die begeisterten Anhänger einer demokratisch-republikanischen Ordnung den Weg für eine Verfassung, die für alle Deutschen gelten sollte. Legendär ist das Fest auf dem Hambacher Schloss nahe Neustadt, auf dem die Bürger für Freiheit und Demokratie eintraten.

Das Gemälde "Das Hambacher Fest" zeigt eine große Menschenmenge mit Fahnen, die zu einem Schloss auf einem Hügel zieht

Der Zug auf das Hambacher Schloss 1832

Die liberal-demokratische Opposition kämpfte entschlossen gegen die reaktionäre, monarchische Ordnung. Ihr Ziel war die Einführung eines allgemeingültigen Rechts und die Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates. In Berlin kam es 1848 zu Straßenkämpfen, aus der schließlich die Deutsche Revolution wurde.

Verfassung von 1848

Die südwestdeutsche Verfassungsbewegung gründete zunächst ein Vorparlament, das aus 500 Abgeordneten bestand. Die verfassunggebende Nationalversammlung tagte zum ersten Mal am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche.

Die Abgeordneten beanspruchten für sich, den Willen des Volkes zu verkörpern. Das Professorenparlament verabschiedete die "Grundrechte des deutschen Volkes", die westlichen Verfassungen wie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung in nichts nachstanden.

Der Grundrechtskatalog beinhaltete Freiheitsrechte, so zum Beispiel die Gleichheit aller vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit. Laut der Verfassung von 1848 lag die Gesetzgebung in Händen des Parlamentes, das sich aus dem Volkshaus und der föderalen Kammer, dem Staatenhaus, zusammensetzte.

Ein Gemälde zeigt die erste Sitzung des deutschen Parlaments in der Paulskirche Frankfurt

Erste Sitzung des deutschen Parlaments 1848

Vertreter der Exekutive sollte der Monarch sein, dessen Macht von der Verfassung des Volkes legitimiert wurde. Allerdings sollte die Position des Kaisers – und damit die Exekutivgewalt – vererbt werden.

Letztendlich scheiterten die erste demokratische Verfassung und das Paulskirchenparlament an der vorherrschenden politischen Ordnung. Die Macht der souveränen Einzelstaaten und ihrer Monarchen hatten die 1848er-Demokraten nicht brechen können.

Nachdem die revolutionären Ausschreitungen in Preußen und Österreich seitens des Militärs gewaltsam beendet worden waren und der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone abgelehnt hatte, war das Ende der Verfassung von 1848 besiegelt.

Verfassung von 1871

Die lang ersehnte Einigung Deutschlands kam erst mit Reichskanzler Otto von Bismarck. Die Verfassung von 1871 verwirklichte ein monarchisches Prinzip.

Die Gewalt ging vom Bundesrat aus, der sich aus den Fürsten zusammensetzte, die nun dem neu gegründeten Deutschen Reich angehörten. Der Reichskanzler saß diesem Gremium vor. Staatsoberhaupt war der Kaiser, der gleichzeitig König von Preußen sein sollte.

Der Reichstag wurde in allgemeinen und geheimen Wahlen vom Volk bestimmt. Auf die Regierungsbildung hatte das Parlament allerdings keinen Einfluss. Die bürgerlichen Rechte wie Eigentumsrechte und Schutz der Persönlichkeit waren garantiert, auch gab es eine Gleichheit vor dem Gesetz. An eine Demokratie in Deutschland war aber nicht zu denken.

Otto von Bismarck.

Otto von Bismarck

Weimarer Verfassung

Die zweite demokratisch-republikanische Ordnung auf deutschem Boden nahm mit der Weimarer Verfassung schließlich Gestalt an. Am 9. November 1918 nachmittags rief Philipp Scheidemann vom Balkon des Berliner Reichstages die Republik aus.

Die Monarchie hatte abgedankt, der Kaiser ging ins Exil. Weil in Berlin Straßenkämpfe tobten und die Situation insgesamt zu gefährlich war, tagten die Mitglieder des Verfassungsrates im Weimarer Nationaltheater, was dem ganzen System schließlich den Namen "Weimarer Republik" gab.

Am 11. August 1919 wurde die neue Verfassung verabschiedet. Die Macht ging nun vom Volke aus. Der Reichstag wurde alle vier Jahre durch allgemeine, gleiche und geheime Wahlen gewählt.

Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte hatten auch Frauen ein Stimmrecht. Das föderale Prinzip war durch den Reichsrat verwirklicht, der durch ein Vetorecht auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen konnte.

Frauenrechtlerinnen demonstrieren in London für das Frauenwahlrecht

Nach dem Ersten Weltkrieg durften Frauen auch in England und Deutschland wählen

Starker Mann laut Verfassung war der Reichspräsident. Die Rechte, die ihm zugesprochen wurden, machten die zwei Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert und Paul von Hindenburg, quasi zu Ersatzkaisern.

Der Artikel 48 ermächtigte den Reichspräsidenten, den Ausnahmezustand zu verhängen, wenn Gefahr für die Sicherheit der öffentlichen Ordnung drohte. Dann war auch das Parlament entmachtet und die Notstandsgesetzgebung kam zum Zuge.

Außerdem hatte der Reichspräsident die Macht, die Reichsregierung zu entlassen und den Reichstag aufzulösen. Die allgemeinen bürgerlichen Freiheits- und Grundrechte waren im zweiten Hauptteil der Verfassung platziert.

Für das Scheitern der Weimarer Verfassung gibt es viele Ursachen. Ein Hauptgrund neben der Weltwirtschaftskrise und ihren Folgen für Deutschland war sicher die mangelnde Akzeptanz, die das Volk der Verfassung entgegenbrachte, und ein allgemein weit verbreitetes antidemokratisches Denken.

Gerade wichtige Funktionsträger wie Richter und Beamte sahen ihre Privilegien in der Weimarer Republik schwinden, die sie unter dem Kaiser noch gehabt hatten. Viele Bürger lehnten die Verfassung ab und diskreditierten damit auch das ganze System.

Das Grundgesetz

Das Grundgesetz ist die modernste und liberalste Verfassung, die Deutschland je hatte, und sie hat sich von allen deutschen Verfassungen am längsten bewährt. Die Demokratie hat sich seit 1945 gefestigt und die politische Ordnung kann durch wirtschaftliche Probleme, wie etwa die Finanzkrise, nicht mehr aus den Fugen geraten.

Obwohl das Grundgesetz schon mehr als 70 Jahre alt ist, gibt es bis heute Antworten auf neue politische und gesellschaftliche Herausforderungen. Eine differenzierte Ausformulierung würde dem Grundgesetz nur schaden.

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Hans-Jürgen Papier hat es so formuliert: "Das Grundgesetz ist kein Poesiealbum für Wünsche." Es ist eine Leitlinie für das Staatswesen, ähnlich wie die Zehn Gebote.

Mit dem Grundgesetz ist die Geschichte der Verfassungen in Deutschland noch lange nicht zu Ende. Denn wir sind nicht nur Bundesbürger, sondern auch Europäer. Die Versuche, eine einheitliche europäische Verfassung auf den Weg zu bringen, sind bislang noch nicht geglückt.

Anlässlich der Gründung der Bundesrepublik Deutschland spricht Konrad Adenauer im Parlament und verkündet offiziell das Grundgesetz am 23. Mai 1949.

Konrad Adenauer verkündet das Grundgesetz

(Erstveröffentlichung 2010. Letzte Aktualisierung 26.09.2019)

Quelle: SWR

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